Es war eine Siedlung von Holzfällern. Halbnackte Träger kletterten über ein dünnes Brett an Deck und luden sich Säcke auf die Schultern, mit denen sie in einer geordneten Marschkolonne, von deren schweren Tritten das Brett sich bedrohlich bog, den Rückweg antraten. In der Siedlung brannten schon einige Karbidlampen. Es gab Weiße und Indianer, indianische Frauen kochten an offenen Feuerstellen. Richard wurde vom Kapitän in eine kleine Hütte gewiesen, die ebenfalls auf Pfählen stand. Ein, was die Reinheit der Fingernägel anlangte, nicht ganz vertrauenswürdiges junges Mädchen servierte ihm das Essen in einem Blechteller, Bohnen mit ein bißchen Fleisch, dazu reichte sie ihm mit einem schüchternen Lächeln etwas Wasser und einen schwarzen Kaffee in einem Blechbecher. Das Lächeln schwebte noch lange in der Hütte, nachdem sich das Mädchen längst wieder zurückgezogen hatte, und Richard ertappte sich dabei, daß er wieder und wieder zurücklächelte, allerdings nur für die hölzerne Wand, an der Bilder mit Badeschönheiten aus einer Illustrierten hingen.
Er entschloß sich zu einem Abendspaziergang, der ihn auf eine Zigarettenlänge um die Siedlung führte; allzu viel war dabei nicht zu erkennen, da es schon dunkel war und die wenigen Lampen nur die Eingänge der Hütten beleuchteten. Letzte Wasservögel, die auf ihre Schlafnester zusteuerten, durchzogen als schwarze Klumpen das ufernahe Gewässer. Als er wieder vor seiner Hütte landete, hörte er es oben rumoren. Eine schwärzliche Affengestalt saß auf dem Dach und ruderte mit den langen Armen, worin Richard eine Einladung erblickte, er solle doch bitte zu ihr aufs Dach klettern. Von hinten zupfte etwas an seinen Hosenbeinen; als er sich umwandte, erschrak er nicht wenig, da er einen Ameisenbären vor sich hatte, der an ihm emporstieg, indem er die Vorderkrallen in Richards Hose hängte und mit der langen Schnauze Taschen, Falten und Höhlungen seiner Kleider absuchte. Daß der Bär freundlich gesonnen war, merkte Richard schnell, trotzdem blieb es unheimlich, von einem ihm bisher gänzlich unbekannten Tier einer Leibesvisitation unterzogen zu werden. Abrupt wandte sich der Bär von ihm ab und trollte sich in die Nacht. Auch der Affe war verschwunden. Ein verwunderter Richard drückte die Zigarette mit der Schuhspitze in den Sand und erstieg das Treppchen zu seiner Hütte.
Er schätzte sich glücklich, weil darin eine Hängematte aufgehängt war und er nicht auf ebener Erde schlafen mußte. An einem Deckenhaken war ein Moskitonetz befestigt, das sich wie ein Zelt um die Matte breiten ließ. Er löschte das Licht und legte sich hin. Nicht mehr daran gewöhnt, in einem Gehäus zu liegen, konnte er ewig nicht einschlafen; er vermißte die Bewegung des Schiffes, vermißte das Brummen des Motors und den Fahrtwind.
Etwas wischte unter ihm durch, es mußte unter dem Boden der Hütte sein, zwischen den Pfählen. Richard horchte mit gespitzten Ohren — da: das Wischen wiederholte sich. Ein Tier streifte umher und bog im Streifen die Zweige, dazu tönten merkwürdige Rufe aus der Ferne, die er nicht zuordnen konnte. In unregelmäßigen Abständen war das Wischen zu hören. Um sich zu beruhigen, mußte Richard dem Tier, das sich den Hüttenuntergrund als Platz erkoren hatte, von dem aus es in die Nacht streunte und zu dem es immer wieder zurückkehrte, einen Namen und eine Gestalt geben. Er verfiel auf den sprechenden Panther seiner Kindheit, der zwar im Moment schweigend herumschlich, weil ihm die Meder, Elamiter und Kyrener fehlten, aber vielleicht konnte Richard, wenn er sich aus seiner Matte beugte und durch die Bodenritzen das Wort an den hingekauerten Panther richtete, eine kleine Konversation mit ihm anknüpfen?
Weit, weit entfernt, aus seltsamer Tiefe gehoben und doch nah, hörte er einen Ton, der ihm durch Mark und Bein ging. Dunkel, wie aus einem Horn geblasen, mal schwächer, mal stärker, eine Drohung, die aus der Nacht auf ihn zurückte, beim Heranrücken vielleicht durch dicke Baumstämme gebremst wurde, die den Schall ein wenig von seiner Hütte ablenkten, um dann mit unverminderter Macht wieder direkt darauf zuzuhalten. Richard lag da wie gesteift. Etwas unvorstellbar Grauenhaftes, für das er keinen Namen wußte, kam ihn holen. Schweiß brach ihm aus allen Poren, er fühlte, wie seine Hände zitterten. Mit weit aufgerissenen Augen lag er allein im Dunkel der Nacht, unfähig, aufzustehen und die Lampe anzuzünden. Jäh fiel ihm ein Traum seiner Kindheit ein, aus dem er jedesmal schreiend erwacht war — in ein friedliches Gebirgsdorf mit Holzhäusern, auf deren Dächern der Schnee lag, kam ein Hirte mit einer Herde Mammuts gezogen, riesigen Tieren, ein jedes größer als die Häuser, an denen sie auf ihrem Pfad vorbeischritten. Der Hirte war winzig neben ihnen und seine zwei Hütehunde auch. Da stürzte das kleinste Mammut, das am Ende der Reihe gegangen war, und blieb liegen im Schnee. Der Hirte fluchte und stieß ihm die Stiefel in den Bauch, aber davon war es nicht hochzukriegen. Er befahl den Hunden, anzugreifen, und sie bissen überall in sein Fell, doch blieben die Bisse wirkungslos, weil die Hunde so klein waren. Da packte den Hirten die Wut, wie aus dem Nichts holte er eine Peitsche hervor und hieb damit so erbarmungslos auf einen der Hunde ein, daß er ihm das Rückgrat brach. Das gellende Geschrei des Hundes füllte das Tal, füllte die Ohren des kleinen Richard, daß er laut schreiend erwachte.
Obwohl etwas in ihm wußte, daß die Szene aus der Erinnerung aufgetaucht war, gewann sie solche Macht über ihn, als hätte er sie gerade von neuem geträumt — mit einem Unterschied: das größte der Mammuts, ein riesiges braunzottiges Tier, wandte den Kopf zu ihm her und sah ihn aus kleinen Augen an, dann hob es den Kopf mit den langen gebogenen Stoßzähnen in die Höhe, und der schreckliche Ton, wie von einem Horn geblasen, schallte durch das Tal.
Da unten mußte noch immer der Panther liegen. Richard klammerte sich an den Gedanken, daß in dem sprachmächtigen Tier die Rettung aufgehoben sei, darum beugte sich sein traumverhangener Kopf aus der Matte und suchte Kontakt.
Zunächst tat sich nichts, selbst das Wischen blieb aus. Als aber Richard zum zweiten Mal flehentlich zu dem Panther hinunterflüsterte, drang eine dunkle, wiewohl klar zu verstehende Stimme zu ihm herauf, die sagte: Ich höre.
Zwei, drei Sekunden hielt Richard den Atem an, dann erfüllte ein Brausen seinen Kopf, und die Worte brachen nur so aus ihm heraus. Alles, was ihn je bedrängt hatte, alles, was er je hatte wissen wollen, wozu da, woher gekommen, wohin bestimmt zu gehen, wieso leiden, schuldhaft, schuldlos, gestraft, ungestraft oder erlöst, von wem, weshalb, wofür; alles, alles, alles brach sich Bahn, und von unten drang Gelächter herauf, das sich ein wenig raunzig anhörte, aber einmal in Fahrt, war Richard nicht mehr zu bremsen und vertraute der Bodenritze den ganzen Salat seiner Kümmernisse und Fragen an, und siehe da, im Laufe der Nacht, die eine kleine Ewigkeit währte, wurden die Dinge sortiert, Naturgeschichte, Menschengeschichte, Theodizee, es wurde habhaft gefragt und wie mit Reißzähnen präzis geantwortet, wobei die Konversation mit den verschlungenen Worten des Panthers endete, der Dschungel sei bald kein Dschungel mehr, Richard werde ja sehen.
Als das Gespräch erlahmt war, lehnte sich Richard in seine Matte zurück, doch bevor der Schlaf ihn weitertrug, gaukelte noch eine Szene in seinem Kopf herum, die ihn nach Münster in die Flure der Universität führte, wo Richard die Tür zu Blumenbergs Sprechzimmer aufstieß. Ohne lang zu fackeln, setzte er sich dem Professor gegenüber an dessen Schreibtisch und legte los. Die Augen des Professors wurden groß und größer, Erstaunen malte sich in ihnen, und mit diesem herrlichen Bild im Kopf schlief Richard, als der Morgen dämmerte, wieder ein, schlief wohlig und tief, wie er nie zuvor geschlafen hatte.
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