Wenige Stunden später lag er in der Hängematte eines kleinen Frachtschiffs, das Kurs auf Iquitos nahm. Nein, bequem war es nicht. Es war die Hölle. Die Matten waren dicht an dicht aufgespannt, er hatte sich keinen Außenplatz sichern können, lag Gesäß an Gesäß mit einem wildfremden Mann; die Latrinen waren derart versaut, daß er beschloß, Essen und Trinken einzustellen. Nachdem sein Entsetzen über die Zumutung so ungewohnter körperlicher Nähe einer fatalistischen Gemütsruhe gewichen war, wurden gute nachbarschaftliche Beziehungen hergestellt, Bananen und Fladen herumgereicht, Karten gespielt, gelacht und geschwätzt.
Richard hatte sein Spanisch in Argentinien gelernt, manche Ausdrücke, die er benutzte, riefen Heiterkeit hervor. Ernst wurden die Mienen seiner beiden Mattennachbarn, stämmiger Kleinhändler mittleren Alters, die mit Säcken voller Bohnen und Süßkartoffeln zu den am Fluß gelegenen Marktflecken unterwegs waren, sobald sie Richard über Deutschland ausfragten. Deutschland flößte ihnen Respekt ein. Von der Teilung in Ost und West hatten sie noch nie gehört. Hitler hielten sie für einen großen Mann, einen echten cojudo mit Eiern groß wie Stiereier, der sich nichts gefallen ließ; einer glaubte gar, der Diktator sei noch am Leben. Trotz der herzhaften Beziehungen, die von Matte zu Matte angeknüpft worden waren, war Richard froh, als sie nach einigen Tagen in Iquitos anlangten und er die Bequemlichkeit einer Badewanne genoß, in einem Hotel, das Jahrzehnte zuvor das verschwenderische Domizil eines Kautschukbarons gewesen war.
Zwei Tage später, nachdem er das ehemals wegen des Kautschukhandels wie ein Pilz aus dem Boden geschossene und dann rasch wieder verblühte Städtchen erkundet hatte, befand er sich endlich auf dem Strom, der hier, am Zusammenfluß des Rio Ucayali und des Rio Marañón, als Amazonas begann. Er hätte es besser nicht treffen können. Auf dem brasilianischen Frachter, dessen himmelblauer Anstrich mit den grünen Aufbauten ihm schon im Hafen verlockend erschienen war, hatte er sich die vorderste Hängematte verschaffen können. Da hing er nun für sich im Freien und ließ den lauen Fahrtwind über seinen Körper streichen. Der Wind war gerade stark genug, daß er es den Mücken unmöglich machte, sich darin zu halten, und er war zu schwach, um auf Dauer unangenehm zu werden. Eine wahre Erlösung! Wenn er sich auf das konzentrierte, was vor seinen Augen lag, konnte er sich einbilden, er sei ganz allein auf dem Schiff, und dieses Schiff würde wie von selbst nach seinen Wünschen gelenkt.
Auf dem Amazonas gab es ein dunstiges Einerlei, unterbrochen nur von dramatischen Sonnenuntergängen und milden Sonnenaufgängen, und Richard genoß die im Gleichmaß abrollenden Tage, die nichts, rein gar nichts von ihm forderten.
Von den Dschungelgeschichten, die er gierig gelesen hatte, wußte er, daß der Amazonas an manchen Stellen sich verbreiterte wie ein Meer, und genau so war es, allerdings hatte Richard ein braungraues Meer vor sich, kein blaues; weithin entzogen sich die Ufer den Blicken. Dann rückten die Ufer heran, und der Amazonas sah wieder aus wie ein Fluß. Daß er ein mächtiger Strom war, daran ließ der Amazonas nirgendwo einen Zweifel. Ganze Baumstämme trieben in ihm, er schleppte sie fort, als wären es Streichhölzer.
Aus den Tagen waren Wochen geworden, aus den Wochen ein Monat und mehr, Richard hatte den Überblick über die vorbeistreichenden Kalendertage längst verloren. Einen gleichförmigen Tag nach dem anderen in einer Hängematte zu verbringen, die so bequem war wie nichts sonst auf der Welt, löste einen merkwürdigen Schwebezustand aus. Ufernah, uferfern, seine Gedanken segelten in vollendeter Freiheit dahin, er döste und wachte im Wechsel, sah den Mond, sah die Sterne, weidete sich an den Wolken, die den Mond bedeckten und ihn wieder freilegten, sah diese Phänomene mit einer solchen Eindringlichkeit, als würde sein eigener, wohlig geborgener Körper mit den Himmelsmächten in geheimer Korrespondenz stehen. Ganz so, wie der Professor es einmal ausgedrückt hatte — als Kind sei man ganz und gar in den Genuß der Weltgunst gekommen; die Welt war einmal so für das Kind dagewesen, daß sie sich vor ihm verneigte und mit ihm weinte und Eskorte auf allen seinen Wegen war.
Richard, der zarte Richard mit den feinen blonden Haaren, hatte die Weltgunst aber bald verloren und war übergewechselt in einen Zustand, in dem er seine Eltern haßte und nicht recht wußte, wohin mit sich selbst. Und dieses leidige Nichtwissen hatte ihn jahrelang begleitet, bis er es später glänzenden Auges seinem Professor angetragen hatte, damit der ihm sage, wozu er in der Welt sei, wobei der Professor von seinen Nöten nicht das Geringste bemerkt, ja, wohl nur in einem entlegenen Gedächtniswinkel registriert hatte, daß es ihn überhaupt gab. Aus dem erbärmlichen Richard, der seinen Jammer mehr und mehr im Alkohol ersäuft hatte, war nun ein bedeutendes Wesen geworden, das auf der Mittellinie der Erde dahintrieb und mit den Toten in ebenso flüssigen Gedankenplaudereien in Verbindung trat wie mit den zungenfertigen Panthern seiner Kindheit.
Er fühlte sich ins Glück gerückt. Lau und warm, niemals heiß oder brennend war das Wetter, manchmal ging ein warmer Regen auf ihn nieder, den er ebenso genoß wie das anschließende Trockenwerden. Spektakulär waren die Sonnenauf- und Sonnenuntergänge. Rote Feuerzungen loderten abends über einer kompakten schwarzen Waldmasse, roséfarbener Frühnebel hüllte den scheu sich zeigenden Zartwald in ein morgendliches Negligé. Am meisten verblüffte ihn der schlagartig einsetzende Chor der Frösche und Kröten. Kaum waren die letzten Sonnenstrahlen vom Wasser zurückgewichen, ging auf die Sekunde genau dieser Chor los. Laut! Aus abertausend Froschkehlen wurde gequakt und geknarrt und gequarrt, was das Zeug hielt, einige Minuten lang, und genauso abrupt, wie der Lärm losgebrochen war, herrschte wieder absolute Stille, in die hinein sich nur der vertraute Motor des Schiffes zu hören gab.
Alles Unangenehme rückte in weite Ferne. Die Bundesrepublik, dies krampfige kleine Land mit seinen krampfigen Politikern, den krampfigen Terroristen, den krampfigen Feministinnen, war bloß komisch, ein Ländchen, das sich wichtig nahm, weiter nichts. Zu Richards Heiterkeit trug der Kapitän bei, der ihn üppig mit Marihuana versorgte und überhaupt ein höchst angenehmer Gesellschafter war. Es war einfach, sich mit ihm zu verständigen. Richard sprach in seinem argentinischen Spanisch, der Kapitän antwortete in einem spanisch-portugiesischen Mischmasch, welchem er durch Augenrollen, Brauenzusammenziehen sowie unter Zuhilfenahme flinker Hände, mit denen er Luftmalerei betrieb, deutenden Nachdruck verlieh.
Richard tat gar nichts, er lag einfach nur da, selbst dem Lesen, das sonst immer sein Tröster gewesen war, fühlte er sich nicht mehr gewachsen; Sein und Zeit schlummerte in der Tiefe seiner Tasche. Morgens erwachte er mit einem großen Plan, den der gleichgültige Strom in ein schwimmendes Ungefähr trug und in tausend glitzernde Tröpfchen zerlöste, was kein Schade war, denn Richard wachte am nächsten Morgen mit einem ebenso herrlichen anderen Plan wieder auf.
Eines Abends in der Dämmerung steuerte der Frachter das Ufer an, obwohl von weitem keine Siedlung zu erkennen war. Doch siehe da, es gab einen Landungssteg. Der Froschlärm war gerade mit den letzten Strahlen der Sonne erloschen, von den Bäumen, von denen einige tief ins Wasser hineinragten, flogen Vögel auf. Jetzt erkannte Richard, daß es sich doch um eine kleine Siedlung handelte, nicht aus festen Häusern, sondern aus Hütten und Blockhäusern zusammengewürfelt, die meisten von ihnen standen auf Pfählen. Der Kapitän bedeutete ihm, daß sie hier übernachten müßten, warum, sagte er nicht, aber es sei für alles gesorgt, Richard könne in einer der Hütten unterkommen.
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