Jürgen Goldstein
Ein philosophisches Portrait
Karl-Heinz Gerschmann in memoriam
Vorwort
Portrait eines sich Verbergenden
Einleitung
Der Zettelkasten
Sinn und Form: Von der Humanität der Umständlichkeit
Eine diskrete Anthropologie
Destruktionen
Frühe Einstimmung: Das Schweigen der Welt
Tradition und Ursprünglichkeit
Die Geschichtlichkeit der Geschichte
Das Verfolgen der Phänomene: Anmerkungen zur Methode
Dem literarischen Nihilismus auf der Spur
Grundlegungen
Frühes Scheitern: Eine Geistesgeschichte der Technik
Die Wende zur Lebenswelt
Eine Kritik der reinen Rationalität: Metaphorologie
Der Selbstzweck der Quellen
Klassizität
Das versöhnende Glück der Theorie
Spätmittelalterliche Gotteseskalation
Die Kunst der Auslegung
Eine Bewusstseinsgeschichte der Neuzeit: Kopernikanismus
Versatzstücke einer großen Metaphorologie
Die Bedeutsamkeit des Mythos
Wenn Einer vollendet, was allen möglich ist: Goethe
Verteidigung der Deutungshoheit
Die bitterste aller Entdeckungen
In der Gelehrtenhöhle
Nachdenklichkeiten
Erhöhte Freiheitsgrade
Die Kunst der kleinen Form: Anekdoten
Gang zwischen Meistern
Horizontanreicherung der Matthäuspassion
Paradigmen zu einer ausdrücklichen Anthropologie?
Schluss
Die Sichtbarkeit Hans Blumenbergs
Nachwort
Philosophieren in der Johannisstraße 12–20, Münster
Anmerkungen
Chronologisches Verzeichnis der herangezogenen Schriften Hans Blumenbergs
Vorwort
Portrait eines sich Verbergenden
Wie soll man ein Portrait von jemandem anfertigen, der sich nicht zeigen will? Der Philosoph Hans Blumenberg schätzte die Diskretion und forderte sie ein. Zu seinen Lebzeiten erlaubte er lediglich den Abdruck von zwei Fotografien, die ihn zeigen. Als Universitätsprofessor war er vor und nach den Vorlesungen für seine Studenten nicht ansprechbar. Zu öffentlichen Vorträgen ließ er sich in späteren Jahren nicht mehr bewegen. Nach der Emeritierung zog er sich gänzlich in seine private Gelehrtenhöhle zurück und reduzierte den Kontakt zu seinen Mitmenschen auf Briefwechsel und vornehmlich nächtliche Telefonate. Seine Bücher entbehren jeder privaten Einlassung: Keine Widmungen, private schon gar nicht, kein Dank an niemanden, auch nicht an jene, die an der oftmals aufwendigen Drucklegung beteiligt waren. Die Bücher stehen wie Monolithe in der akademischen Landschaft, und so sehr sie Diskussionen angestoßen haben, so wenig haben sie die Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Zeitgeist gesucht. Als Philosoph ist Blumenberg zunehmend in Deckung gegangen. Das war nicht immer so: Er war Gründungsmitglied einer der spannendsten Forschungsinitiativen der jungen bundesrepublikanischen Geisteswissenschaft, für die er den Namen erfand: Poetik und Hermeneutik . Dennoch frappiert der Umstand, es hier mit einem Philosophen zu tun zu haben, dessen Bedeutung in dem Maße gewachsen ist, wie sein Rückzug aus der Öffentlichkeit voranschritt.
Warum dann aber einem Portrait den Titel ›Hans Blumenberg‹ geben, wenn der Bezeichnete als Person sich zu entziehen suchte? Reichte es nicht, seine Werke auf zentrale Argumente und Thesen abzusuchen, diese darzustellen und zu diskutieren? Genügte nicht eine Auseinandersetzung mit den in ihnen behandelten Problemen? Wer auch nur einen Blick in eines der zahlreichen Bücher Blumenbergs geworfen hat, wird auf Anhieb bemerkt haben, wie sehr sich sein Denk- und Schreibstil vom akademisch üblich Gewordenen unterscheidet. Darin liegen sowohl ihre ungebrochene Anziehungskraft als auch die Schwierigkeiten, die man mit ihnen haben kann, begründet. Seine Bücher sind ungemein faszinierend und schwer zu lesen, äußerst anregend und zumeist umständlich, sehr stilbewusst und oftmals lang. Seine Philosophie bezeugt bis in die Feinheiten der Drucklegung der Bücher hinein ein ausgeprägtes Formbewusstsein. Dabei war dieser Autor ein Langstreckendenker, der überraschende Themen über viele Jahre und über Hunderte von Seiten verfolgte, und er war zugleich ein Meister der Miniatur. Blumenberg hat über Jahrzehnte einen unverkennbaren Personalstil ausgebildet. Seine Sprache besitzt einen ihr eigenen Klang, seine Denkwege eine ihnen eigene Typik. Darauf kommt es an: Blumenberg ist in seinem Werk auf eine sehr hintergründige Weise äußerst präsent. Der Kunsthistoriker Joseph Leo Koerner, mit dem Selbstportrait in der Malerei vertraut, hat auf die durchscheinende Persönlichkeit Blumenbergs in seinen Texten hingewiesen: Durch ihren »selbstreflexiven Charakter, durch die nachdrückliche Pflege eines persönlichen literarischen Stils, erhalten seine umfangreichen Veröffentlichungen alle Kennzeichen einer betonten, wenn auch unendlich abstrakten Subjektivität«. 1Das gesamte Werk Blumenbergs lässt sich als ein diskreter Selbstausdruck dieses Philosophen lesen. Das erlaubt ein philosophisches Portrait.
Um das Profil dieser Philosophie und die geistige Physiognomie ihres Denkers hervortreten zu lassen, werde ich das gesamte Werk heranziehen, von Blumenbergs frühen akademischen Qualifikationsschriften über die klassischen Hauptwerke bis zu seinen späten Nachdenklichkeiten über die von ihm gesammelten Anekdoten. Sämtliche Reflexionsfelder, die für ihn wichtig waren, werden dabei in ihrem Zusammenhang auf einer geistigen Landkarte einzuzeichnen sein: Blumenbergs Philosophie der Technik, seine Hinwendung zu einer Theorie der Lebenswelt und der Metapher, die Bewusstseinsgeschichte der Neuzeit als Abwehr eines übermächtigen Gottes und als Folge des Kopernikanismus, die anhaltende Bedeutsamkeit des Mythos, die Not der modernen Zeitknappheit, die Schwelle der Höhle als Realismuseingang und die heutige Hörbarkeit der Matthäuspassion Bachs – um nur die wichtigsten zu nennen. Zentrale Aspekte seiner Philosophie verlangen eine Darstellung in ihrem jeweiligen Zusammenhang: die Selbsterhaltung der Vernunft, der Absolutismus der Wirklichkeit, die Phänomenologie der Geschichte etwa. Zentrale Gestalten, um die dieses philosophische Denken kreist, sind im Koordinatensystem des Werkes zu verorten: Kopernikus und Galilei, Nikolaus von Kues und Giordano Bruno, Augustinus und Wilhelm von Ockham, aber auch Thomas Mann und Theodor Fontane, vor allem aber Heidegger und Husserl. Und von unvergleichlichem Rang: Goethe. Als Klammer dient mir Blumenbergs leitende Aufmerksamkeit für den Menschen, wie sie in der philosophischen Gestalt einer Anthropologie ihren Ausdruck gefunden hat.
Dabei gilt es stets zweierlei zu beobachten: was Blumenberg macht und wie er es macht. Neben den Abschnitten dieses Portraits, die sich den Themen seiner Bücher widmen, werde ich in eigenen Zwischenbetrachtungen die Charakteristika dieses Philosophierens herauszustellen suchen: die Physiognomie seiner Denkform, das versöhnende Glück der Theorie, den Selbstzweck der Quellen, die Humanität der Umständlichkeit, die Kunst der Auslegung und die Kultivierung der Nachdenklichkeit. Bei Blumenberg liegt nichts auf der Hand, oft nicht einmal, worum es in seinen Büchern geht. Oft ist der zweite Blick vonnöten, angereichert mit den Kenntnissen des übrigen Werkes und den Reflexionen über die Eigenarten der Herangehensweise. Nur mit einem Doppelblick auf den behandelten Gegenstand und auf die Art seiner Behandlung lassen sich Blumenberg und seine Philosophie profilieren.
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