Hans Jürgen Kugler
AndroSF 115
Hans Jürgen Kugler
VON ZEIT ZU ZEIT
AndroSF 115
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© dieser Ausgabe: Juni 2021
p. machinery Michael Haitel
Titelbild: Uli Bendick
Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda
Lektorat & Korrektorat: Michael Haitel
Herstellung: global:epropaganda
Verlag: p. machinery Michael Haitel
Norderweg 31, 25887 Winnert
www. p machinery.de
für den Science Fiction Club Deutschland e. V., www.sfcd.eu
ISBN der Printausgabe: 978 3 95765 244 7
ISBN dieses E-Books: 978 3 95765 853 1
Der Wahnsinn begann am Morgen des 6. Juli 2022. Ich wachte früh auf, weil ich jämmerlich fror. In meiner Bude war es eiskalt, und das mitten im Sommer. Ich versuchte die Bettdecke enger um mich zu ziehen, aber das erwies sich als unmöglich. Schlaftrunken schüttelte ich den Kopf. Meine kuschelige Bettdecke lag vollkommen starr und unbeweglich auf mir. Nur eine dünne Schicht, die unmittelbar mit meinem Körper Kontakt hatte, schmiegte sich noch ein wenig an meine Haut. Der Rest war steif wie ein Pappkarton. Und wie mir der Rücken wehtat! Auch die Matratze schien über Nacht hart wie Stein geworden zu sein.
Leicht benommen machte ich Anstalten aufzustehen. Ich wollte die Decke zur Seite werfen und erlebte gleich die nächste Überraschung: Das dämliche Ding bewegte sich keinen Millimeter und klemmte mich regelrecht unter sich ein. Ich atmete tief durch, um meine aufkommende Panik unter Kontrolle zu bekommen. Ein Albtraum?
Ich versuchte es erneut, und diesmal gelang es mir, das störrische Ding Zentimeter um Zentimeter hochzustemmen, bis ich einen schmalen Spalt zwischen mir und der Decke geschaffen hatte, aus dem ich mich herauszwängen konnte. Ich landete hart auf dem Boden und atmete erleichtert aus. Mein Atem schien auf der Stelle schockgefroren zu sein und schwebte wie eine Wolke bewegungslos vor mir. Ich blickte auf mein unheimliches Nachtlager zurück, über dem die Decke schwebte wie an Bindfäden aufgehängt. Jetzt war ich endgültig wach – und zugleich sicher, dass das nur ein Traum sein konnte.
Ich kämpfte mich auf die Beine und ging vor Verwirrung und Kälte schlotternd ins Bad. Der Wasserhahn am Waschbecken klemmte. Mit viel Kraft und Ausdauer bekam ich ihn schließlich auf, hatte aber noch lange kein Wasser. Eingefroren?
Verwirrt blickte ich zum Fenster. Draußen schien hell und klar die Sommersonne, hier drinnen jedoch war es geradezu frostig. Allmählich bekam ich es mit der Angst zu tun.
Ich wollte den Wasserhahn gerade wieder zudrehen, da sah ich im Licht der Morgensonne am unteren Ende des Hahnes etwas hervorglitzern. Neugierig beugte ich mich hinab und konnte beobachten, wie ganz allmählich ein Tropfen aus der Öffnung hervorquoll. Er wurde größer, löste sich vom Hahn und … schwebte in aller Seelenruhe majestätisch in der Luft, bevor er langsam nach unten sank.
Beim nächsten Tropfen das gleiche Spiel. Fast unmerklich bildete sich ein dünner Strahl, der zu einer kräftigen Säule aus Wasser wurde, die in der Luft zu stehen schien und gemächlich dem Waschbecken entgegenwuchs. Dieses Schauspiel wurde von einem grummelnden Geräusch begleitet. Die Vibrationen des tieffrequenten Bebens, das direkt aus der Erde zu kommen schien, konnte ich deutlich in der Bauchdecke spüren. Ich zwickte mich noch einmal kräftig in den Oberarm – kein Zweifel, ich konnte neuerdings in Zeitlupe gucken …
Vorsichtig berührte ich mit den Fingerspitzen dieses »stehende Gewässer«. Seine Konsistenz erinnerte mich an Kunststoff. Ich drehte den Wasserhahn wieder zu und wartete gespannt, was nun passieren würde. Nichts. Eine gefühlte Ewigkeit lang. Dann zeigte sich ein feiner Spalt zwischen Hahn und Wasser. Ganz langsam wurde er größer, und die Wassersäule begann, in sich zusammenzusacken. Es schien ewig zu dauern, bis sich das verbliebene Wasser zu größeren Tropfenansammlungen teilte, die einige Zeit noch in der Luft standen, ehe sie allmählich nach unten schwebten. Endlich auf dem Porzellan des Waschbeckens angekommen, zerplatzten sie zeitlupenartig in sternfunkelnde, kronenartige Ringe, die kleine glitzernde Perlen auf ihren Spitzen trugen und wie fremdartige Pflanzen aus dem Waschbecken emporwuchsen, bis sie in sich zusammensackten und wie überdimensionale Amöben langsam Richtung Abfluss krochen.
Wahnsinn! Ich war von dem ungewöhnlichen Schauspiel so gebannt, dass ich fast die arktische Kälte vergessen hätte. Was auch immer hier drin los war, vielleicht war die Welt draußen ja noch normal? Oder wenigstens wärmer? Immerhin schien die Sonne, also nichts wie raus.
An der Tür die nächste Überraschung: egal, wie kräftig ich daran zerrte – nichts. Als ob sie sich über Nacht in eine tonnenschwere Tresortür verwandelt hätte. Verzweifelt rannte ich zur Balkontür. Zum Glück war Hochsommer und da hatte ich sie gewohnheitsmäßig offen stehen lassen. Ich schwang mich über die Brüstung und landete unsanft auf der Kiesfläche im Garten.
Hier draußen wurde es schlagartig wärmer. Die Sonne strahlte, wie es sich für einen ordentlichen Sommertag gehörte, hell und heiß auf mein Gesicht. Die kalte Luft schien also lediglich auf die Innenräume beschränkt zu sein. Heilfroh, der arktischen Kälte meiner Wohnung entkommen zu sein, sah ich mich um.
Die Landschaft war in einen satten rotgoldenen Ton getaucht. Ich blickte auf die Straße. Alles war ruhig. Die Szenerie, die sich mir bot, hatte was von einem Standbild. Auf dem gegenüberliegenden Gehweg standen ein paar Leute wie Schaufensterpuppen herum, die auf ewig mitten in der Bewegung erstarrt zu sein schienen. Ein Pärchen ging, oder vielmehr stand, Hand in Hand auf dem Bürgersteig. Der Mann hatte seinen linken Fuß etwas in die Luft gestreckt, wie um einen Schritt nach vorn zu tun. Sie blickten einander an. Die Frau hielt ihren Mund leicht geöffnet, weil sie wohl gerade etwas sagen wollte. Ein tiefer, gedehnter Brummton war zu hören, der aus ihrem Mund zu kommen schien.
Ein eiskalter Schauer kroch mir langsam das Rückgrat hoch. Von nacktem Grauen erfüllt sah ich mich Hilfe suchend um. Mitten auf der Straße stand ein blauer Toyota. Ich wunderte mich, warum dieser Idiot hier mitten auf der Fahrbahn parkte, da bemerkte ich, dass sich dieses Auto doch bewegte. Nur ganz wenig, aber dennoch deutlich zu erkennen. Es fuhr buchstäblich im Schneckentempo.
Dieser Anblick nahm mich so gefangen, dass ich mir um ein Haar eine Fliege ins Auge gerammt hätte, die direkt vor meiner Nase in aller Seelenruhe stoisch ihre Bahn zog. Und zwar ebenfalls im Zeitlupentempo, ich konnte deutlich das langsame Auf und Ab der gläsernen Flügel erkennen. Schnell trat ich einen Schritt zurück und der Brummer schwebte wie an einer unsichtbaren Schnur gezogen gemächlich an mir vorüber.
Allmählich dämmerte es mir: Ich hatte in meinem Leben genügend Science-Fiction-Romane gelesen, um zu wissen, was los war: gar kein Zweifel – Zeitdehnung! Die Welt um mich herum hatte sich aus irgendeinem Grund verlangsamt. Oder ich mich in ihr beschleunigt. Was auf dasselbe hinauslief.
Davon zu lesen war eine Sache, es am eigenen Leib zu erfahren eine ganz andere. Heiße Panik stieg in mir auf und mit einem Mal fühlte ich mich verdammt einsam. Was, wenn dieser Zustand anhielt – bis in alle Ewigkeit gar? Die in diesem Fall ziemlich lang werden könnte.
Ich betrachtete noch einmal die Fliege. In den letzten zwei, drei Sekunden war sie vielleicht gerade mal ein paar Fingerbreit vorangekommen. Wie schnell flog so eine Stubenfliege für gewöhnlich? Und wie hoch lag eigentlich die Schlagfrequenz ihrer Flügel?
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