Die Schlaflosigkeit blieb weiterhin ein Problem für mich; da ich aber allein lebte und als Kleinunternehmer selbstständig arbeitete, konnte ich meinen Alltag entsprechend aufteilen. Die Aufträge, die hereinkamen, arbeitete ich wie sonst auch ab, keine besonderen Herausforderungen.
Hin und wieder übernahm ich auch ein paar Termine für die Zeitung. Einige Lokalredakteure schätzten meine Fachkenntnisse auf dem Gebiet der klassischen Musik. Das Zeilengeld war zwar miserabel, aber ich sah es pragmatisch. Auf diese Weise konnte ich einige Konzerte besuchen, die ich meinem Budget sonst vielleicht nicht zugemutet hätte. Und übermäßigen Sozialkontakt musste ich hier auch nicht befürchten. Ich setzte mich irgendwo an den Rand, von wo ich noch ein paar gute Fotos machen konnte und zottelte nach dem Schlussakkord wieder ab.
Mehr Einkommen erzielte ich mit Korrekturarbeiten. Ich hatte während meines Studiums genügend Erfahrungen sammeln können, arbeitete routiniert und konzentriert, meine Auftraggeber wussten meine Zuverlässigkeit zu schätzen und versorgten mich regelmäßig mit Aufträgen. Davon ließ sich ganz gut leben, und ich konnte meine Zeit selbst einteilen. Manche Romane waren entgegen aller Erwartung wirklich gut geschrieben, sodass ich mich nicht wie so oft gelangweilt durch die Seiten quälen musste. Es gab Schlimmeres, als bei schönem Wetter gemütlich auf dem Balkon zu sitzen, ein Buch zu lesen und dafür auch noch bezahlt zu werden.
Mit der Zeit gewöhnte ich mich auch wieder daran, mein selbst gewähltes Exil zu verlassen, und begann damit, alte Freundschaften neu zu beleben. Eines Abends nach dem dritten Glas Wein rief ich aus einer spontanen Laune heraus meinen Kumpel Tobias an, mit dem ich vor einigen Jahren in einer WG gelebt hatte.
»That’s right, you heard right, the Secret Word for tonight is …«
»Mud Shark!«, ergänzte Tobias wie aus der Pistole geschossen. Und wir beide dann unisono: »THE MUD SHARK DANCING LESSON! – Mud Sh-sh-shark …«
Unser kleines Erkennungsritual war seit unseren WG-Zeiten stets das gleiche geblieben. Alte Liebe rostet nicht.
»Mensch! Alte Socke!«, begrüßte mich Tobias. »Schön, mal wieder von dir zu hören. Wie geht’s dir denn so?«
»Ja, Mann. Ist verdammt lang her. Hab gedacht, jetzt rufste aber mal an. Was treibst du denn so? Immer noch Klarastraße?«
»Ach was. Längst Geschichte. Bin jetzt sogar brav verheiratet und – fasse dich – arbeite als Buchhalter.«
Mir wäre fast das Telefon aus der Hand gefallen.
»Äh, wie bitte? Buchhalter? Du? Wie ging das denn?«
»Na ja, irgendwas ist von der Lehre halt doch hängen geblieben. Und als ich vor drei Jahren Laura kennengelernt hatte …«
»Lass mich raten – Laura schafft auch in der Buchhaltung?«
»Quatsch. Laura studiert Physik, Teilchenphysik, um genau zu sein. Kennengelernt habe ich sie ganz klassisch im ›Heuboden‹.«
»Ach so, ja klar. Du im ›Heuboden‹ …«, unterbrach ich ihn und schüttelte ungläubig den Kopf. Da muss die Not aber groß gewesen sein, wenn Tobias, der Hinterhofgigolo aus Gütenbach, im »Heuboden« wilderte.
»Nur kein Neid«, gab er zurück. Ein ganz klein wenig selbstgefällig klang er dabei doch. Aber das konnte ich ihm auch nicht verdenken. Tobias war in unserem Freundeskreis der Einzige, dem die Frauen regelrecht nachliefen. Keine Ahnung, was die Mädels an ihm fanden, er war weder besonders groß oder sportlich, sah eher durchschnittlich aus. Geld hatte er eigentlich auch nie – damals jedenfalls. Aber das gewisse Etwas.
Ich erinnerte mich an eine Szene mit ihm, wo ich nur noch ratlos den Kopf schütteln konnte. Wir hatten uns für einen Kurzurlaub im ICE verabredet, er kam von Ulm, ich von Freiburg, und im ICE für den Flieger nach Frankfurt hatten wir uns verabredet. Natürlich war der ganze Zug vollkommen überfüllt, sodass wir es uns mit unseren Rucksäcken kurzerhand im Türbereich gemütlich gemacht hatten. Und mit uns zwei Mädels, die nach Berlin unterwegs waren.
Es dauerte nicht lange, da hatte Tobias sich den beiden bereits vorgestellt. In aller Ausführlichkeit und in einem Affenzahn. Ich weiß bis heute nicht, was da eigentlich abging. Tobias vollkommen unter Strom, ganz der Strahlemann und Weltenretter, einfach so drauflos geplappert – dass er beim Radio arbeitete, aber eigentlich Schauspieler sei, im Moment sich eine kleine Auszeit gönnte, zwecks des kreativen Inputs, und so weiter, und so fort. Immer mit diesem charmanten, unergründlichen Lächeln und ständigem Augenkontakt.
Jedenfalls hatte er es geschafft, zwischen Mannheim und Frankfurt-Flughafen mit der einen, der Hübscheren der beiden, heftig knutschend rumzumachen. Gerade als er drauf und dran war, ihr das T-Shirt auszuziehen, mussten wir am Flughafen aussteigen. Ich hätte schwören können, dass die solcherart Verwöhnte Tränen in den Augen hatte, als er sich hingebungsvoll von ihr verabschiedete.
»Du, um es kurz zu machen«, unterbrach Tobias meine Gedanken. »Ich bin gerade auf dem Sprung. Können wir uns nicht ganz einfach treffen? Am Samstag bin ich ohnehin Strohwitwer, Laura schiebt Dienst im Labor in Gran Sasso. Wär doch perfekt für einen Männerabend?«
»Ja, klar«, sagte ich. »Passt. Ich bring Bier mit.«
Er nannte mir seine Adresse – Vaubanviertel, ausgerechnet. War Tobias jetzt auch noch unter die Ökospießer geraten? Das konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Wohl aber, dass seine Teilchenphysikerin auf einer korrekt durchökologisierten Wohnung im angesagtesten Viertel der Stadt bestanden hatte.
Das Vaubanviertel hatte zumindest den Vorteil, dass ich bequem mit der Straßenbahn fahren konnte. Unterwegs holte ich an der Tanke noch zwei Sixpacks und Knabberzeug. Die Adresse musste ich erst suchen. Tobias und Laura wohnten in einem der energetisch hochoptimierten Plattenbauten mit umlaufenden Balkonen, Dachgeschoss. Es war Schlag halb acht und das Kindergeplärre ringsum auf dem Höhepunkt. »Das sind Lebensäußerungen, kein Geschrei«, wie mich eine verhuschte Siedlungsbewohnerin mal diesbezüglich aufgeklärt hatte. Jedem das Seine.
Tobias erwartete mich bereits an der Haustür im Erdgeschoss. Vom Balkon aus hatte er gesehen, wie ich etwas verpeilt seine Hausnummer suchte.
»Hey, altes Haus«, begrüßte er mich. Wow – was war bloß aus dem spindeldürren Kerl mit Mähne und Vollbart geworden? Wampe, Föhnfrisur und – ich fasse es nicht – im Polohemd.
»Mensch, lange nicht gesehen.« Mehr brauchte ich nicht zu sagen.
»Komm rein.« Er ging die Treppen zum Dachgeschoss voran. Bevor wir seine Wohnung erreichten, mussten wir noch am hell erleuchteten Küchenfenster der Nachbarwohnung vorbei. Gewöhnungsbedürftig. Oben angekommen wehte ein frischer Luftzug vom offenen Balkon her. Er führte mich in ein geräumiges Wohnzimmer. Nichts mehr von dem dezenten Schmuddelcharme aus unserer WG. Hier hatte eine Putzfrau professionell Hand angelegt – und ein Innenarchitekt, wie es aussah.
»Hübsch hast du es hier«, sagte ich und konnte einen leicht sarkastischen Unterton nicht ganz unterdrücken.
Tobias lächelte tiefgründig in sich hinein: »Geht so, hält den Regen ab …« Er klopfte mir wohlwollend auf die Schulter und bat mich, Platz zu nehmen.
»Doch, gefällt mir, ehrlich. Etwas gediegener als in der Klarastraße.«
»Den Saustall brauchst du heute aber auch nicht mehr, oder?«
»Nein, natürlich nicht. Das sind nur die Erinnerungen …«
»Nun ja«, sagte Tobias.
»Die ganz wilden Zeiten sind wohl vorbei …«
»Ist auch besser so. Rein gesundheitlich betrachtet.«
»Wie man hört, bist du jetzt fest liiert …« Es fiel mir schwer, ernst zu bleiben. Tobias guckte mich erstaunlicherweise nur treudoof an.
»Wie ist sie denn so, kenne ich die womöglich auch noch von früher?« Ich war einfach nur neugierig.
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