Einzig das Kapitel über das pfingstliche Wasservogelsingen der Ortschaft Ringelai im Bayerischen Wald war nach Richards Dafürhalten passabel, wenn nicht sogar gewitzt ausgefallen, vielleicht auch noch die Fußnote über einige mittelalterliche jüdische Gemeinden, in denen es Brauch gewesen war, die Kleinen zu Shavuot im Alter von etwa fünf Jahren auf das Lesepult der Synagoge zu stellen und sie dann in die Shul zu tragen, wo sie die ersten hebräischen Buchstaben lernten und mit Süßigkeiten gefüttert wurden, weil die Tora ja süß in sie hineingehen sollte — alles schön und gut, aber er hatte diese einzelnen Teilchen Blumenberg ja nicht getrennt von den anderen, zähen Teilen, die sich gedanklich nie vom Boden lösten, zur Durchsicht geben können. Zäh, ja, zäh war er zwischen dem Alten und dem Neuen Testament hin- und hergekreuzt, hatte brav bei Moses begonnen, war über das Buch Ruth zu Joel, zur Apostelgeschichte, zu Johannes gelangt, hatte brav von den Reparaturleistungen gehandelt, die das Pfingstwunder an der Geschichte vom Turmbau zu Babel vornahm, aber so geistesöde wie ein Bibelingenieur, und nicht einmal ein guter, bis auf der vermaledeiten Seite sechsundachtzig die Quälerei zum Erliegen gekommen war.
Was hatte er sich abgerackert, um alles über die Meder, die Parther, die Elamiter, die Kyrener in Erfahrung zu bringen, die nach der wundersamen Fleischerleuchtung so munter mit den Ägyptern und Römern geplaudert hatten, in ihrer jeweils eigenen Sprache, doch von jedem anderen verstanden wie im Flug. Was aber Blumenberg seinen Studenten von Vorlesung zu Vorlesung lässig vorgeführt hatte, genau das war Richard versagt geblieben: auf etwas anderes hinzublicken, um zur Erkenntnis des einen anstelle von einem vagen Einerlei zu gelangen.
Dann hatte er von seiner Großmutter Geld geerbt und den Entschluß gefaßt, ein Jahr in Südamerika zu verbringen. Er hatte sich vorgenommen, den ganzen langen Amazonas per Schiff zu befahren, das heißt, zunächst nicht den Amazonas, sondern den Rio Ucayali, einen seiner Hauptzuflüsse. Und nun befand er sich endlich auf dem Amazonas.
Großmutters Geld war in Travellerschecks und Dollars verwandelt worden, die er in einer Spezialtasche aus Baumwollstoff mit Reißverschluß am Leib trug. Seine eigentliche Reisetasche hatte schon bessere Tage gekannt. Ihre rötlichen Gobelinstickereien waren inzwischen abgeschabt und grau, etliche Nähte geplatzt, die Henkel brüchig. Trotzdem war er stolz auf das Ding. Eine neugierige Schäferin beugte sich über einen schlafenden Hirten — auf der Vorderseite. Auf der Rückseite war die Schäferin selbst entschlafen. Die Tasche machte ihn glauben, er sei ein reisender Held aus einer glorreichen früheren Zeit und habe mit den Touristen, die sonst unterwegs waren, nicht das geringste zu tun.
Ein echtes Abenteuer war sie gewesen, seine Ankunft in der tropischen Welt. Spätabends war er auf dem kleinen Flughafen von Pucallpa gelandet, der den Namen eines peruanischen Capitán trug. Kaum betrat er das Treppchen, um die Propellermaschine zu verlassen, legte sich die feuchtschwüle Tropennacht wie ein erstickendes Tuch um seinen Körper. Die ersten Atemzüge waren ungewohnt dick und warm. Millionen von Insekten umschwirrten die Scheinwerfer, die an Gerüsten auf dem Dach der Empfangshalle montiert waren und die Landebahn von hoch oben bestrahlten. Ein Gesirr und Gezisch lag in der Luft, Gezisch mit winzigen Rauchschwaden, von den Insekten erzeugt, die an den heißen Strahlern verbrannten. Richard wußte, daß in den Tropen unvorstellbare Massen von Insekten lebten, jetzt sah er zum ersten Mal solche Massen im gleißenden Kunstlicht einer Tropennacht, war davon fasziniert und erschreckt.
Das Hotel hatte ihm sofort gefallen. Man betrat es durch Schwingtüren wie einen amerikanischen Saloon. Er hatte sich als Cowboy gefühlt, als er seine Schritte auf dem Holzboden knarren hörte und die kostbare Tasche neben der Rezeption, die zugleich eine Bar war, auf einen Hocker stellte. Müde Typen hingen herum und spielten Domino, hoben die Köpfe kaum, um ihn zu beobachten. Kakerlaken gab es bestimmt, aber offenbar waren sie zu schüchtern, um sich zu zeigen, als er das Licht im Zimmer anknipste. Ein hohes, dunkles Bett aus Kolonialtagen erwartete ihn, von der Decke hing das obligate Moskitonetz.
Zum Frühstück wurde ein buttriger Maniokbrei mit gebratenen Bananen serviert, dazu ein ebenholzschwarzer Kaffee aus einer grauweiß gesprenkelten Blechtasse, die er sogleich ins Herz schloß und am liebsten mit einer Schnur an seine Tasche gehängt hätte. Als die Türen vom Saloon aufschwangen, sah er niedere Häuserzeilen, darüber einen bleigrauen, tief herabhängenden Himmel, durchsetzt von rötlichen Staubwolken, sah kreiselnde Windböen, die Staub von den gestampften Lehmwegen aufrührten. Das Hotel lag an der geteerten Hauptstraße, die hinab zum Fluß führte.
Am Flußufer hatten Frachtboote festgemacht. Am Ladeplatz trugen halbnackte Träger Körbe und prall gefüllte Säcke auf den Schultern, in zwei geordneten Marschkolonnen entluden und beluden sie die Schiffe, dazwischen wimmelten Passagiere, die in die Boote drängten oder ihnen soeben entstiegen waren. Richard konnte gar nicht anders, als diesen Anblick mit Szenen aus Hollywoodfilmen zu vergleichen, in denen römische oder ägyptische Sklaven das Geschäft der Mühseligen und Beladenen verrichteten, allerdings waren in diesen Filmen die Gewänder meistens weiß, während bei den Männern hier das wenige, das sie am Leib trugen, in allen Farben leuchtete. Auch waren die Männer stämmiger und kleiner. Indios aus dem peruanischen Dschungel arbeiteten hart am Ufer des Rio Ucayali.
Bevor er sich dem großen Fluß überließ, wollte Richard die Nebenarme des Ucayali erkunden. Zu diesem Zweck wurde er mit dem Besitzer eines hölzernen Kahns handelseinig, der ihn herumrudern sollte. Und so kam er anderntags in den Genuß einer kleinen Fahrt, die durch Flußschlingen führte, vorbei an Wäldchen mit Algarrobosträuchern, vorbei an Totwässern, die faulig rochen und über die eine grünfleischige Pflanzenschicht gebreitet lag, als müßten darunter schwerwiegende Geheimnisse verdeckt bleiben. In manch einem der toten Arme steckte ein Kahn fest, der von den Besitzern verlassen worden war. Vielleicht waren die Kahnfahrer von den Pflanzen erstickt worden und erzählten da unten mit körperlosen Stimmen, mehr ein Gemurmel denn ein Sprechen, ihre todtraurigen Geschichten.
Traumentflogene Schmetterlinge gaukelten heran, riesige, träge Segler, azurblau, karmesinrot, in flammendem Orange, oder Winzlinge, zitronengelb und apfelgrün gescheckt. Eine dichte Wolke von Mücken begleitete das Boot, dem Fährmann schienen sie nichts anzuhaben, aber in Richards Fleisch stachen sie erbarmungslos, obwohl er sich reichlich mit Mittelchen eingeschmiert hatte, keineswegs einladend, sondern abscheulich roch. Der Fährmann war ein gelassen beobachtender Mensch, der sich jeden Kommentars enthielt, wenn Richard wie ein Wilder um sich schlug, um das Geziefer zu verscheuchen, bis er sich endlich in sein Schicksal ergab. Glucksen und Wassergehüpf von Tierchen, die von Seerosen- und treibenden Palmblättern sprangen, begleiteten die Fahrt. Diese Gewässer schienen von Viechern förmlich zu brodeln. Das lebte und schmatzte und gurgelte, flog und schwamm und hüpfte in einem fort. Krokodile, auf die er gehofft hatte, blieben allerdings im Verborgenen. Statt dessen wurde die murmelnde Stille von Papageiengezeter durchbrochen: Geschwader von geärgerten Vögeln mit grünblauen Brustlätzen stiegen von den Bäumen auf.
In der Nacht lag Richard mit rot geschwollenen Beinen, einem zerkratzten Hals, zerkratzten Unterarmen im Bett, er fluchte und wälzte sich herum, kratzte und kratzte, obwohl er sich das zum hundertsten Mal verbot, und fand keinen Schlaf. Am Morgen saß ein ramponierter Westernheld vor seinem Maniokbrei und zweifelte, ob er die große Flußfahrt wirklich unternehmen sollte.
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