Am linken Ohr des Löwen zeigte sich ein kleiner Makel im Fell, offenbar eine Verletzung, die Blumenberg bisher noch gar nicht aufgefallen war.
Um sich vom Löwen abzulenken, erzählte er von seinen Kindern. Kinder verlangten nach Gerechtigkeit. Sie dürsteten danach, brennender, ungestümer als die Erwachsenen. Dennoch, als seine Kinder klein waren, war er schnell davon abgekommen, ihnen den gerechten Vater vorspielen zu wollen. Eine solche Farce vor ihnen aufzuführen war ihm gründlich mißlungen; dann hatte er es gar nicht mehr versucht. Dabei hatte er auf die Erfahrung vertraut, daß sich über eine längere Zeitdistanz hinweg manche Ungerechtigkeit von selbst ausgleichen würde. Was einmal ein Vorteil gewesen war, konnte sich zum Nachteil auswachsen; umgekehrt konnte eine Zurückweisung, die als bohrende Ungerechtigkeit empfunden wurde — war nur genügend Zeit verstrichen —, späten Lohn eintragen.
Der Redakteur fragte ihn, ob er vielleicht eine Glosse schreiben wolle zu seiner Weigerung, über Gut und Böse im moralischen Sinn zu philosophieren.
Auf keinen Fall.
Blumenberg wunderte sich für einen Moment, weshalb der Redakteur, der ihn doch inzwischen gut genug kennen mußte, um zu wissen, daß so etwas nie und nimmer in Frage kam, ihm den Vorschlag überhaupt angetragen hatte. Wahrscheinlich war der Löwe im Spiel. Der Löwe sorgte für Irritationen, die der Redakteur durch die Leitung hindurch gespürt haben mußte, ohne die leiseste Ahnung davon zu haben, wer sich im Arbeitszimmer des Philosophen befand und mithörte.
Die Raumbeschränkung einer Glosse für ein solches Thema! Weshalb er sich weigerte, über Gut und Böse zu philosophieren, ließ sich unmöglich darin unterbringen. Die gnostischen Dualismen waren ihm von jeher suspekt gewesen; er hatte sie immer bekämpft. Das absolut Böse hatte er zwar am eigenen Leib erfahren, dennoch waren ihm der rigorose Moralismus, die Selbstgerechtigkeitswogen, auf denen viele Studenten schwammen, unerträglich. Da wurde immer haarscharf gewußt, wer zu welchem Lager zu zählen war, was bei einem Mann wie zum Beispiel Ernst Jünger zu grotesken Fehldeutungen führte. Die jungen Leute, die diese Zeit nicht erlebt hatten, wollten nichts davon hören, was Auf den Marmorklippen damals, 1939, als das Buch erschienen war, bedeutet hatte.
Die junge Generation war von Abscheu und Neid erfüllt. Vage wußten seine Studenten davon, welche Drohungen über ihren Eltern und Großeltern geschwebt hatten und wie jämmerlich diese sich angesichts der Risiken betragen hatten. Das erfüllte sie mit Abscheu gegenüber dem Versagen und mit Neid gegenüber der sich ihnen niemals bietenden Möglichkeit, Gewißheit über sich selbst zu finden.
Aber er verspürte nicht die geringste Lust, solche Themen auszuwalzen oder auch nur anzureißen, schon gar nicht in einer Zeitungsglosse.
Ungewohnt heftig war er gewesen. Der Redakteur mochte sich wundern, womit er eine solche Abfuhr verdient hatte. Blumenberg war normalerweise bestrebt, sich höflich zu äußern, feinfühlig und äußerst zuvorkommend, wenn er einen Wunsch nicht erfüllen konnte. Unangemessen scharf war sein Tonfall gewesen. Es tat ihm leid. Verkorkst. Das Gespräch war durch und durch verkorkst, weil das einzige, wovon er brennend gern gehandelt hätte, nicht erwähnt werden durfte.
Alles in ihm drängte, schob, verlangte, ja, schrie fast danach, endlich, endlich vom Löwen zu sprechen.
In einer melodramatischen Aufwallung, die er sonst nicht an sich kannte, überkam Blumenberg das Gefühl, gerade die einzige Gelegenheit zu verpassen, mit einem Menschen von scharfem Verstand, der in wesentlichen Dingen seines Sinnes war, über das Ungeheuerliche zu reden, das ihm widerfahren war und noch immer widerfuhr.
Die ausgefaserte Schwanzquaste des Löwen zuckte leicht.
Es war schwerer als gedacht, ohne Zeugen auszukommen. Die Nonne — jaja, ohne Zweifel, sie war eine handfeste Zeugin, eine beeindruckende sogar. Trotzdem hätte er den Fall liebend gern mit einem belesenen Kopf besprochen, der die beweiskräftigen Indizien kannte, die der Löwe im Verlauf seines jahrhundertelangen Auftauchens und Wiederverschwindens hinterlassen hatte, ein Mann, der klug genug war, gemeinsam mit ihm darüber zu spekulieren.
Der Löwe hatte inzwischen den Kopf niedergelegt, ganz so, als wäre die Gefahr vorüber, daß er hätte Thema werden können.
Um dem jähen Wechsel im Tonfall die Schärfe zu nehmen, fragte Blumenberg betont freundlich nach der Arbeit des Redakteurs. An den humoristischen Auskünften, wie viele Stapel unnützer Bücher auf seinem Tisch lägen und wie viele Kollegen ständig in sein Büro stürzten, um ihn mit läppischen Fragen zu belästigen, merkte Blumenberg, daß der Redakteur ihm nicht böse war.
Sie verabschiedeten sich. Sein von drei Lampen erleuchtetes Arbeitszimmer inmitten der Nacht hatte ihn wieder.
Das Telephonat hatte eine düstere Leere in ihm hinterlassen. Er fühlte sich wie ein ausgeblasenes Ei. Für den Moment wußte er nicht, was er tun sollte. Sein Produktionseifer, der enorme Fleiß, der ihn immer ausgezeichnet hatte, all das war ein Kampf gegen die Leere. Ein Kampf, der nicht zu gewinnen war, wie er im geheimen wußte, ein Abwehrzauber, ähnlich dem Singen von Kindern im finsteren Walde.
Ihm kamen die eigenen Kinder wieder in den Sinn, das Licht, das er manchmal in der Nacht in ihren Zimmern angeknipst hatte. Vor Jahrzehnten, als alle noch klein waren, war er mit seinen Fledermausohren zuständig gewesen für Schmerzen, von denen die Kinder in ihren Betten manchmal angefallen wurden. Die Verzweiflung der Kinder, die keinen Schlaf fanden und litten oder von Alpträumen heimgesucht worden waren, konnte er immer noch spüren. In dieser frühen Zeit war es ihm gelungen, den Tröster zu spielen. Jetzt tröstete der Löwe ihn, aber der Schweigepakt, der ihm dafür auferlegt worden war, ließ sich nur schwer einhalten. Außerdem schien der Löwe allmählich etwas von seiner tröstenden Kraft einzubüßen. Weshalb war er heute nicht in der Vorlesung erschienen? Ein Warnzeichen! Blumenberg ärgerte sich, daß er von seinem Löwen bereits dermaßen abhängig war, daß dessen Wegbleiben ihn aus der Fassung bringen konnte.
Nein, über Gut und Böse würde er nichts veröffentlichen, schon gar nicht mit direktem Bezug auf den Nationalsozialismus. Er hatte sich auch zurückgehalten, als Hannah Arendt mit ihrer These von der Banalität des Bösen an die Öffentlichkeit getreten war. So scharfe Worte, wie er heute dafür fände, hätte er 1963 vielleicht nicht gefunden, obwohl das Buch damals schon seinen Unmut erregt hatte. In einigen Punkten mochte sie zwar recht haben mit ihrer These, aber dies am Fall Eichmann zu demonstrieren, zum neuralgischen Zeitpunkt seines Prozesses in Israel, da die Staatsgründung, zu der Leute wie Eichmann ja indirekt beigetragen hatten, noch nicht lange her war und Eichmann die einzige Zielperson, der einzig greifbare Schuldige war, dessen sich die Juden hatten versichern können, und nun ausgerechnet diesen Mann im Banalen des Bösen zu verharmlosen war ein Fehler, ja, mehr als das, es war verwerflich. Sechs Millionen Tote waren in den neuen Staat eingezogen. Nicht ob man etwas böse nennen durfte, war das Problem, sondern wann und wie. Sie hatte kein Verständnis für die Kraft des Symbolischen. Vor allem störten ihn der schnoddrige Ton und ihr Ehrgeiz, sich mit einer möglichst steilen These hervorzutun.
Problematisch war auch der Zeitpunkt gewesen, zu dem Sigmund Freud den Mann Moses veröffentlicht hatte. Freuds Darstellung des Moses als Ägypter erschien ausgerechnet in einem Jahr höchster Bedrängnis. Den Juden, denen kaum etwas anderes geblieben war, als sich an ihre Geschichte zu klammern, wurde auch noch ihr größter Überlebensvater, der Geschichtsheld des Exodus, genommen und den Ägyptern zugeschlagen. Gewiß, Freud war nicht auf Zerstörung aus gewesen, er hatte den Juden eher etwas von der Bürde ihrer Besonderheit nehmen wollen, um damit den Haß zu mindern, der sie in Europa umbrandete. Aber gerade das war falsch. Eine Wahrheit, die einige Jahrzehnte früher oder einige Jahrzehnte später befreiend hätte wirken können, war zu einem solchen Zeitpunkt unangemessen.
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