Die Tagesgeschäfte waren längst im Gang, als er erwachte. Zum Frühstück gab es den vertrauten gebutterten Maniokbrei, der ihm diesmal von einer weißhaarigen Frau gebracht wurde, deren Mund eine einzige Runzel war. Der Frachter sollte erst gegen Mittag abfahren, so hatte Richard noch Zeit für einen Spaziergang. Er folgte einem breiten Weg, der aus der Siedlung herausführte, und war erst fünf Minuten gegangen, da eröffnete sich vor ihm ein freies Feld, groß, riesengroß sogar und ziemlich quadratisch, eine kahle Fläche, die in den Wald hineingefräst worden war. Auf der Fläche regten sich keine jungen Triebe, da war nichts außer Sand und kümmerlichem Gras. Der Anblick war bestürzend. Alle Kräfte, die er während der Nacht gesammelt hatte, wurden ihm weggenommen. Richard machte kehrt und hatte nur noch den einen Wunsch: zurück in die Hängematte und weiterfahren!
Sobald er wieder dort lag, wo er hingewollt hatte, hellte sich sein Gemüt auf. Im lauen Fahrtwind dahintreibend, fiel es ihm leicht, sich in das nächtliche Abenteuer zurückzuversetzen, kostbar, immer kostbarer kam es ihm vor, weil inzwischen die Angst fehlte, die es ursprünglich begleitet hatte.
Zu seiner flirrenden Stimmung trug ein Mädchen bei. Höchstens vierzehn Jahre war es alt und so schön, daß Richard manchmal die Augen schließen mußte, weil er nicht glauben konnte, daß es einen so schönen Menschen überhaupt gab. Sie waren miteinander bekannt geworden, als sich das Mädchen an den Bug gestellt hatte, um ins aufgewühlte Wasser zu sehen. Es hatte nicht lang gedauert, da sprach sie ihn an, er selbst hätte sich das niemals getraut. Mit einer natürlichen Bewegung, gegen die es nicht den kleinsten Einwand gab, zog sie einen herrenlosen Schemel heran und setzte sich neben seine Matte. Richard richtete sich etwas auf, er kam sich plötzlich wie in einem Krankenbett vor, mit einer Krankenschwester neben sich, die ihn aufmerksam betrachtete.
Es begann alles so leicht. Richard mußte gar nichts tun. María kam mehrmals am Tag, manchmal auch nach Einbruch der Dunkelheit, und leistete ihm Gesellschaft. Offenbar reiste sie ohne Begleitung. Noch nie war ihm ein Wesen begegnet, mit dem er sich auf so heitere und mühelose Weise verstand. All die Zahnrädchen, die sich sonst bei ihm in Bewegung setzten, wenn er einer anziehenden Frau begegnete, blieben still, er trug kein Verlangen danach, aufzutrumpfen oder eine seiner üblichen Komödien aufzuführen, er wartete einfach, bis sie kam, freute sich, wenn sie kam, und fühlte sich von jeder Begegnung beglückt, als hätte ihn eine schmale Göttin aufgesucht, um Tautropfen auf seine Stirn zu träufeln.
Natürlich, sie war noch sehr, sehr jung. Aber hatte nicht Novalis ein blutjunges Mädchen begehrt, und war nicht der bucklige Lichtenberg mit einem Mädchen glücklich geworden, das um Jahrzehnte jünger war als er selbst? Zwischen ihnen war der Altersabstand gar nicht so groß. Höchstens elf, zwölf Jahre, vielleicht dreizehn. Auch war der Abstand erheblich kleiner als der zwischen Humbert Humbert und Lolita. Der Vorteil seiner Lolita bestand außerdem darin, daß sie kein zickiges, verkitschtes Mittelklassegirl aus dem amerikanischen Norden war; umgekehrt hatte er sich keiner der unsauberen Strategien Humbert Humberts bedient, um sich an sie heranzupirschen. Er konnte keinerlei Schande in ihrem keimenden Verhältnis erblicken, er unternahm nichts, gar nichts, um María anzufassen. Mehrere Male schon hatte sie ihn zum Abschied auf die Stirn geküßt.
Sie war Brasilianerin und fand Vergnügen daran, ihm Worte in ihrer weichen Sprache beizubringen, die Richard wie ein braver Schüler geduldig wiederholte. Die Anmut, wie sie den Worten mit Blicken aus großen ernsten Augen Nachdruck verlieh und mit eifrigen Fingerchen deren Bedeutung untermalte, war einfach hinreißend. O ja, er war verliebt — auf eine chimärische Weise, die nichts, rein gar nichts von ihm verlangte, da eine vollendete Passivität ihn in seiner Hängematte hielt.
Und doch entwickelten sich in ihm allmählich Pläne; er konnte sich nicht enthalten, Wege und Möglichkeiten gedanklich hin- und herzuwälzen, die es ihm erlaubten, María nach Europa mitzunehmen. Es war schwer, ein Glück zu genießen im Wissen darum, daß es bald zu Ende gehen würde. Sie gehörte schon wie selbstverständlich zu ihm, unmöglich, sie nie wiederzusehen, wobei ihm schmerzlich zu Bewußtsein kam, daß er die nächsten Jahre nicht in einer Hängematte würde verbringen können und wahrscheinlich auch nicht in Brasilien. Sobald sein Pläneschmieden gestaltreichere Züge annahm und ihm in der Phantasie ein aktives Handeln abverlangt wurde, befiel ihn ein Unbehagen. Bei dem Gedanken, María mit seinen Eltern in Paderborn bekannt zu machen, verließen ihn die schwungvollen Geister, die ihn beflügelten.
Wie er in Erfahrung brachte, lebte Marías Familie in Belém und eine Tante von ihr in Manaus. In Manaus würde sie mit ihm das Schiff verlassen. Er hatte sich vorgenommen, eine Woche in Manaus zu verbringen. Die am Rio Negro gelegene Stadt, von der aus Fitzcarraldo zu seinem irrwitzigen Schiffsabenteuer aufgebrochen war, zog ihn von allen Städten Brasiliens am meisten an. Wie es dort mit ihm und María weitergehen würde, stand in den Sternen. Die letzten Tage in der Hängematte verrannen in leiser Wehmut und mit leisen Befürchtungen.
Als sie den Amazonas verließen, um wenige Kilometer den Rio Negro aufwärts zu fahren, wurde es auf dem Schiff unruhig. Die Leute brachten ihre Habseligkeiten zusammen oder standen laut schwatzend an der Reling. Es war soweit. Seine Tasche war schnell gepackt.
Wie nah das Schöne am Schrecklichen siedelt, merkte er, als das Schiff in Manaus anlangte und er sich notgedrungen wieder auf zwei Beine gestellt sah. Die Stadt erbrach ihren Müll die Uferböschung hinab in den Fluß. Auf dem Müll kletterten überall Menschen herum. María hatte sich angeboten, ihn zu einem Hotel zu begleiten; er wollte sich in der Innenstadt, in der Nähe des Teatro Amazonas und des Palácio da Justiça, eines suchen. So leicht kam er aber nicht weg. Vom Kapitän wurde er schwungvoll verabschiedet. Sie verließen als letzte Passagiere das Schiff.
Was ihn am Hafen erwartete, schockierte ihn. Als sich das übliche Gewimmel ein wenig verzogen hatte, sah er Menschen herumhocken, auf Brettchen mit Rädern sitzen, auf Krücken stehen, mit entsetzlichen Krankheiten geschlagen, sie hatten Schwären und Beulen und verstümmelte Glieder, so grauenerregend, daß Richard die Augen von ihnen fortwenden mußte. Weißgott, er war inzwischen durch viele arme Länder gereist, war Zeuge geworden, wie an der Grenze bolivianische Landarbeiter von den Argentiniern auf rohe Weise, wie Vieh, mit Fußtritten traktiert und zu Desinfektionszwecken mit DDT besprüht, ja, regelrecht damit überschüttet wurden, er war stundenlang auf Lastwagen herumgefahren zusammen mit bolivianischen Marktfrauen, die so schwere Säcke dabeihatten, daß er sie selbst nicht heben konnte, sie aber schon, und er hatte eine alte Bettlerin sterben sehen, in der Avenida Monroe, in der er in Buenos Aires gewohnt hatte, aber das Elend, das ihm hier entgegentrat, war greller. María, die nicht verstand, warum er hilflos stehengeblieben war, zupfte ihn am Ärmel und führte ihn fort. In seiner Verwirrung hatte er den berühmten Mercado , einen Eisengerüstbau nach den Plänen von Gustave Eiffel, der als Markthalle diente, gar nicht wahrgenommen.
Auf dem Fußmarsch weg vom Hafen beruhigte er sich ein wenig. Mehr dem Inneren zu, als sie die baufälligen Hütten und einige grobe Neubauten hinter sich gelassen hatten, wurde die Stadt immer prächtiger. Es war nicht weiter schwer, ein passables Hotel zu finden, er fand sogar ein schönes, an seinem Unterbau glänzten die floral gemusterten Kacheln, mit denen die Portugiesen ihre reichen Häuser geschmückt hatten. Wahrscheinlich waren Kacheln in dem tropischen Klima eine beständigere Außenhülle als Holz oder ein gewöhnlicher Verputz.
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