Ratlos! brüllte es aus ihm heraus: Ratlos seid ihr, ratlos blickt ihr auf das bleiche Ruinenfeld eures widerlichen Lebens! Ihr in euren Löchern. Raus, rein, überall Löcher. Schmutzloch! Schmutzloch! Nicht geschenkt haben will ich eure Löcher. Lochkrepierer seid ihr. In seinem Loch ist jeder Käfer Sultan, sagen die Ägypter. Die Ägypter sind weise. Ihr aber seid Käfer! Ihr wollt nicht aus euren Löchern.
Mit erhobenem Zeigefinger fuchtelte er an der Luft herum: Zur Sicherheit werdet ihr jetzt alle für tot erklärt und aus dem Operationsgebiet abgezogen!
Er legte den Finger an die Stirn, als müsse er überlegen, seine Stimme wurde ruhiger und tiefer: In Afrika ist der Ausdrucksvolle schön. Wer am ausdrucksvollsten mit den Augen rollt und am wirkungsvollsten mit dem Kinn zittern kann. So einen Mann holen sich die Mädchen mit locker schwingenden Armen aus der Runde. Wer mit dem Kinn zittern kann, hat gewonnen! Her zu mir, sage ich! Auserlesene, her zu mir!
Wieder fuhr sein Zeigefinger senkrecht in die Höhe, und wieder setzte das Kreischen ein: Der sich und andere verwirrende Mensch ist der gewöhnliche Mensch. Das gemeine Aas. Ihr seid die gewöhnlichsten Menschen. Schmutzloch!
Hier nun zitterte seine Stimme von schwelendem Zorn, und sein gegen die Leute ausgestreckter Finger zitterte mit: Aber ich weiß zu verhindern, daß ihr weiter wie gewöhnliche Menschen vor euch hinschmutzt. Vor euch steht der Erwählte!
Er erhob sich auf die Zehenspitzen und stellte sich dann fest auf die Füße: Hier — er zeigte mit abgehackter Bewegung auf seine Füße —, hier steht Einer! Einer, der! Hansjörg Cäsar Bitzer. Ordnungsdienstlich. Die Entfernung aus dem Operationsgebiet ist verfügt! Weg! Arschlöcher weg!
Nun wedelte Hansi mit den Armen, als müsse er Fliegen verscheuchen, dann faßte er sich und nahm seine übliche Drohstellung ein: Aber vorher geht der Koffer auf. Der HERR hat gewerkt! Lämmer werden dem Koffer entquellen, nicht falsch, wer jetzt an das Lamm Christi denkt! Nicht falsch, wem jetzt das Kinn zittert, wenn ich die Schlösser schnappen lasse. Auf geht’s, ihr Arschlöcher! Glaubt nur, daß es mit euch bald ein Ende haben wird. Wundern werdet ihr euch über meine Lämmer. Ich habe Lämmer dabei, einzigartige Opferlämmer, die nur darauf warten, euch zwischen die Beine zu laufen. Seht, ich hebe jetzt meinen Zeigefinger, wie einst Christus beim Abendmahl den Zeigefinger hob — Hansi hob aber nur kurz den Finger, stürzte sich auf einen Passanten und entriß ihm eine Flasche Coca-Cola, warf sie zu Boden, wo sie splitterte und ihren Inhalt ergoß —, du da, du wirst mich verraten, und du, und du, und du, ihr alle werdet mich verraten! Verräter werden alle aus dem Operationsgebiet entfernt!
Der junge Mann war zu erschrocken, um etwas gegen Hansi zu unternehmen. Weil gar zu absonderlich war, wie sich der Verrückte benahm und was er herausschrie, hatten sich inzwischen doch Neugierige eingefunden, ein altes Ehepaar und ein Kind, eine Gruppe junger Polen. Die Frau hatte den Kopf schiefgelegt, um besser zu hören. Aus gehörigem Abstand heraus schauten sie auf Hansi. Da traten zwei Wachleute von einem privaten Sicherheitsdienst heran und faßten Hansi mit geschulten, unwiderstehlichen Griffen von hinten unter die Arme. Der wehrte sich verzweifelt, drehte wild den Hals, schrie, zappelte, trat mit den Beinen gegen die Beine der Sicherheitsmänner, seine Widerstandsfähigkeit wuchs mit jedem Schritt. Während die Männer ihn zum Ausgang schleiften, schrie er immer wieder nach seinem Koffer und seinen Lämmern. Schrie: Ich bin’s, der Stein, der schreit!
Lämmer! das Wort füllte die Halle, während Hansi zwischen den beiden zusammensackte. Sie glaubten erst an einen Trick, ließen den Leblosen vorsichtig zu Boden gleiten, sie stießen ihn, rüttelten an seiner Brust, dann riefen sie den Rettungsdienst, Männer in grellen Jacken, die sich an ihm zu schaffen machten, aber nicht mehr tun konnten, als den Tod des Mannes festzustellen. Als man später den Koffer öffnete, fand man ihn leer. Das heißt, nicht ganz. Eine Bildpostkarte war auf den Grund geklebt mit einem Gemälde von Zurbarán. Es zeigte ein gefesseltes Lamm, erbarmungswürdig in seiner Unschuld, das zarte Reiflein eines Heiligenscheins über dem ergebenen Kopf.
So viele Tode verhältnismäßig junger Menschen. Man wird einwenden, der Erzähler hätte besser daran getan, Verzicht zu üben und nicht mit einer solchen Häufung aufzuwarten, noch dazu nach Art eines Buchhalters, ohne die verflossene Zeit zu durchdringen und die Tode in einem verschlungenen Netz anspielungsreicher Bezüge zu bergen. Ein Erzähler hat aber die Pflicht, auch das Unwahrscheinliche wahrheitsgetreu zu verzeichnen. Möglichst knapp. So wurde in der Geschichte nun mal gestorben, und so wurde es eben festgehalten, festgehalten zum Zwecke neuerlicher Verwandlung, wie sich bald zeigen wird.
Vorher muß aber noch ein anderer Tod nachgetragen werden, kein verfrühter, sondern ein altersgemäßer: nicht wild, nicht zappelig, sondern ruhig in ihrem Bett (allerdings nicht mit gefalteten Händen, denn sobald die beiden Klosterschwestern, die das Bett umstanden, die Hände ineinander zu bringen versuchten, fuhren sie wieder auseinander), den winzigen haubenlosen Kopf hochgelagert auf einem prall gefüllten Kissen, verschied am 12. März 1987 Käthe Mehliss, und zwar mit dem Satz: Gleich geht’s wieder los, ihr werdet sehen! , wobei sie noch die Kraft fand, das S überscharf zu betonen, wie es immer ihre Art gewesen war.
Ein letzter Zweifel sei hier angemerkt: Wir zögern, die Behauptung Wittgensteins ins Feld zu führen, all diese Tode wären jeweils ein ganzes Leben wert gewesen. Waren sie’s? Das Gegenteil könnte genausogut der Fall sein — der Tod hat keinen Wert, das Leben allen.
Über die Jahre hinweg hatte sich Blumenberg an seinen Löwen gewöhnt. Nach der Emeritierung war es um ihn einsam geworden. Nur selten verließ er das Haus, den Kontakt zu seiner alten Universität hatte er verloren, dem Gewühl des Wissenschaftsbetriebes, dem er sich schon vorher weitgehend entzogen hatte, war er völlig abhanden gekommen. Ihm war nur die Verbindung zur eigenen Familie geblieben; die Innigkeit der Gesellschaft mit dem Löwen hatte sich intensiviert. Er lebte mit ihm wie in einer uralten Ehe. Worte waren nicht nötig, man verstand sich auch so. Zugleich wurde der Umgang etwas lax. Ein Schlendrian im Wechsel von Vergessen, Übersehen und Wiederaufmerken stellte sich ein. Helles Entzücken, das Aufjagen von Ideengestöbern, das der Löwe früher in ihm bewirkt hatte, blieb aus.
Auch der Löwe hatte seine Stimmungen. Blumenberg verstand sich fein darauf. Manchmal hatte der Löwe eine mürrische Nacht und schlief, den Kopf vom Schreibtisch abgewandt, und kein Härchen auf ihm regte sich. Dann mühte sich Blumenberg vergeblich, mit einer Satzkanonade mehr Leben in seinem Löwen zu entfachen. Wenn die Ägypter behaupteten, der Löwe sei stärker als der Schlaf, er wache immer, so traf das auf seinen Löwen nicht zu. Sein Löwe war über weite Strecken der Nacht provozierend schläfrig. Vielleicht verfügten die Ägypter über andere Mittel, ihre Begleitlöwen in einem aufmerksamen Zustand zu erhalten.
Längst war er dazu übergegangen, wie ein alter Freund mit ihm zu sprechen — tu nicht so! stell dich nicht so an! konnte er lakonisch zu ihm hinunterrufen, wenn sich der Löwe wieder einmal weigerte, von ihm Notiz zu nehmen. An der Art, wie der Schwanz zuckte, konnte Blumenberg ablesen, ob es sich um eine nervöse, ungeduldige Reaktion handelte oder ob der Löwe, indem er bedächtig die Schwanzquaste über den Teppich führte, ihm seine Zustimmung bedeutete. In seltenen Fällen ließ der Löwe aus der Tiefe seines Bauchs einen Grimmlaut hören, etwas zwischen einem Seufzer und einem Grunzer, dann antwortete Blumenberg: Ahh! Wieder nicht zufrieden, mein preziöser Kamerad! Er nannte den Löwen einen Meister des unscheinbaren Ausdrucks , oder — in Abwandlung eines Satzes, den Nietzsche über sich selbst gesagt hatte — einen Possenreißer schläfriger Ewigkeiten .
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