Mit der Zeit gab es jedoch viele Nächte, in denen Blumenberg seinen Löwen vollständig vergaß. Anfang September des Jahres 1994 blieb der Löwe während der Nacht zum ersten Mal verschwunden. Blumenberg fühlte eine brennende Erregung in seiner Brust. Fortwährend umrundete er den Schreibtisch und das Stehpult. Auch Musik half nicht, ihn zu beruhigen. Er konnte sich ein Buch vornehmen, die Zeitung, er konnte den Fernseher anschalten, nichts half. Immer wieder suchten seine Augen die Fenster ab, ob der Löwe vielleicht vom Garten hereinkommen würde. Hörte er es draußen rascheln, machte er die Tür auf, was ihm gleich unsinnig vorkam. War der Löwe da, vergaß er ihn. Fehlte der Löwe, fühlte er sich beraubt, mehr als das, er fühlte sich bedroht.
Im Bett nahmen die bedrückenden Brustschmerzen zu. Auch der Kopf schmerzte, ihm wurde übel. Er geriet in eine so angsterfüllte Stimmung hinein, als hätte ihn die Katastrophe seiner Jugend frisch geholt. In eine tiefe Ohnmacht gesunken, wurde er tags darauf ins Krankenhaus eingeliefert.
Als er wieder nach Hause zurückkehren durfte, war etwas Unwiderrufliches geschehen. Die gebrechliche Letztzeit war über ihn gekommen. Daran konnte auch der Löwe nichts ändern. Zwar freute Blumenberg, wie ruhig der Löwe während der ersten, wieder im Arbeitszimmer verbrachten Nacht dalag. Alles wie eh und je. Aber es war eine zittrige Freude. Wenn nur die Kraft dazu gereicht hätte, aufzustehen, wäre er zum Löwen hinübergegangen und hätte sich über ihn gebeugt, um mit der Hand über sein Fell zu streichen. Blumenberg war nun über alle Maßen erpicht darauf, seinen Löwen endlich zu berühren, aber allein die Vorstellung, sich niederbeugen zu müssen und dabei womöglich über dem Löwen zusammenzubrechen, hielt ihn in seinem Arbeitssessel fest. Zitternd vor Schwäche saß er wie ein Gefangener darin. Der drei Meter entfernte Löwe genügte nicht mehr zu seiner Beruhigung. Ohne innigen, handgreiflichen Kontakt hatte er dem lahmen, brütenden Stieren in den Tod hinein wenig entgegenzusetzen. Er sah sich als besiegt an und konnte keinen Trost daraus ziehen, daß die echte, die wahre Geschichte immer zu Füßen der Besiegten saß, die den Tod vor Augen hatten. Die feinen theologischen Obertöne, die sein Werk auszeichneten und die der Löwe in seiner Schwindelexistenz zu bestätigen schien, nutzten ihm jetzt, selbst mit Blick auf diesen gewaltigen Zeugen, wenig — es war ihm nicht möglich, frei heraus zu glauben, daß man nicht einfach nur tot sei, wenn man tot ist.
In manchen Nächten stürzte er in eine tiefe Verzweiflung. Alles war umsonst. Umsonst hatte er so hart gearbeitet. Bald würde es niemand mehr geben, der seine Bücher las. Sie würden in Vergessenheit geraten. Er erinnerte sich an manchen stolzen Satz von ehedem, etwa, er werde seine Lebensarbeit nicht im Stich lassen, bevor die letzte Zeile stehe. Solche Sätze kamen ihm nun aufgeblasen vor. Das Verschwinden seiner öffentlichen geistigen Präsenz hatte begonnen. Er war noch nicht tot und schon nicht mehr vorhanden.
Unbemeistert blieben auch Dinge, die ihm früher keine Mühe bereitet hatten, etwa eine der übereinander gelagerten Kisten aus dem Regal zu ziehen, um an alte Aufzeichnungen und gesammeltes Bildmaterial zu kommen. Er wollte das Abbild zweier Löwen finden, die ihre Tatzen in einen Lebensbaum schlugen, konnte die zugehörige Kiste aber nicht herausbringen. Statt dessen fand sich eine alte Zigarrenkiste mit einer vertrockneten Brasil darin, Sorte, die er in den fünfziger Jahren geraucht hatte. Er klappte den Deckel wieder zu.
An Arbeit war nur mehr selten zu denken. Das Verfassen eines Briefs nötigte ihm viel Kraft ab. Selbst die Telephonate mit dem geliebten Redakteur, die er früher so genossen hatte, waren nur noch selten möglich. Es strengte ihn zu sehr an, sich zu konzentrieren. Auch schien der Redakteur zu merken, daß es ihm nicht gutging, was er, Blumenberg, wiederum als peinigende Bürde für das Gespräch empfand. Zwar kehrte in den folgenden Monaten manchmal etwas von seiner alten Kraft zurück, dann konnte er die Arbeit in gewohnter Weise wiederaufnehmen, aber der erfrischte Zustand hielt nicht lange an. Er wußte um die Kürze der Frist, die ihm noch gewährt war.
Am 28. März 1996 fand ihn seine Frau tot im Bett liegen. Eine Spur Löwengeruch hing im Zimmer, aber so gering, daß die Frau in ihrer Aufregung und der herbeigeholte Arzt nichts davon bemerkten. Eine angebrochene Tafel Schokolade von Cailler war dem Toten aus der Hand geglitten. Ein Stückchen Silberpapier lag auf dem Boden. Auf Blumenbergs Pyjamajacke und auf der Bettdecke hatten sich kurze, stumpfe, gelbliche Haare verfangen, die schwerlich von einem Menschenkopf stammen konnten. In dem geschäftigen Hin und Her um den Toten blieben sie unentdeckt. Die Anzeigen, die später verschickt wurden, zierten Briefmarken mit dem Löwen von Lübeck.
Eine Bleibe , hatte Samuel Beckett geschrieben, wo Körper immerzu suchen, jeder seinen Verwaiser. Groß genug für vergebliche Suche. Eng genug, damit jegliche Flucht vergeblich . Beckett hatte einen zylindrischen Behälter vor Augen. Oben zu. Kein Entkommen. Nicht allzu hoch, nur sechzehn Meter. Im Kopf des Lesers muß jetzt ein davon verschiedener Behälter entstehen, der allerdings von Becketts Verwaiser wichtige Objekte, Lautäußerungen und Gesten empfangen hat, zum Beispiel Leitern, zum Beispiel in abgeschwächter Form das Keuchen, zum Beispiel das selbstvergessene, verlangsamte Spiel der Finger — groß, der Raum, wandelbar groß und größer, kein Raum der Einsperrung, zumindest keiner engen, mit hoher Decke, mit vom Hauptraum ins Unabsehbare abzweigenden Nebenräumen. Licht. Mal schwach, mal stärker, Licht, möglicherweise von überall her kommend, Licht, wie gelenkt vom Auge des Betrachters innerhalb der Höhle, aber ein beharrlich sich gleichbleibendes Licht, wenn auch nur ein Schimmer, vom schmalen Ausgang der Höhle her, allerdings aus weiter Ferne kommend, für müd gewordene Existenzen schwer zu erkennen, schwer zu erreichen. Still hier drin. So still, daß ein einzelner Laut wie gestochen aus dem Schweigen heraus erklingt. Wie ein auf den flachen Spiegel eines Höhlensees aufschlagender Tropfen. Aber es ist unmöglich zu hören, wie die Welt altert, trotz der dringlichen Schärfe, mit der sich jeder Laut zu hören gibt.
Wandelbar auch das Kleid der Höhle. Ein wandelbarer Wall, an dem die Bilder auflaufen. Mal nackte Felswand, mal von aufzuckenden Erscheinungen belebt, mal mit Tapisserien behangen, aus denen einzelne Figuren hervortreten oder hervorhüpfen können, zum Beispiel das Rebhuhn, um, wenn nicht mehr benötigt, wieder in die Tapisserie aufgenommen zu werden und dort ruhigen, rebhuhnhaften Sinnes zu verharren, bis ein neuerliches Herauskommen gewünscht wird. Leitern an den Wänden, auch sie an wandelbaren Stellen. Aber, soweit der Hauptraum überblickt werden kann, derzeit nicht in Gebrauch.
Wenn man nicht wüßte, daß auch der Hauptraum seine Form verändern kann, würde man sagen: in der Mitte des Raums bequem hingelagert sechs Figuren. Teils auf einem alten, etwas fleddrigen Chesterfield-Sofa, teils am Boden gegen Kissen und Stapel von Decken gelehnt. Einer gelehnt gegen den Bauch eines mächtigen Löwen, mächtig auch im Vergleich zu den neben ihm klein wirkenden Menschen: er, Löwe, Blickfang der Höhle.
Nie zuvor hatte Blumenberg so wohlig geruht. Eine zweifelhafte Behauptung. Blumenbergs Erinnerungen an vormalige Ruhezustände waren viel zu blaß, als daß er hier zu Vergleichen befähigt gewesen wäre. Das Atmen des Löwen teilte sich seinem Rücken mit. Vom Löwen ging Wärme aus, eine atmende Heizung umfing ihn von hinten. Der Löwengeruch, unbezwingliche animalische Präsenz verbreitend, streng, aber nicht unangenehm, hüllte ihn ein.
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