Beim Sturz hatte er sich die Hände aufgeschürft. Die Innenflächen brannten. Ich werde eine Blutvergiftung bekommen, dachte er. Dann war der Kerl im Hawaiihemd über ihm und fingerte an seinen Hüften herum. Richard packte der Zorn. So kläglich wollte er sich vor seinem Mädchen nicht geschlagen geben, so nicht. Er verpaßte dem Mann einen kräftigen Tritt, der taumelte rückwärts, und Richard kam wieder auf die Beine. Er keuchte und schwitzte. Vor dem offenen Schuppentor, lichtumflossen, stand María, die Füße einwärts gedreht, Hände unter den Bauch gekrampft. Lange konnte er diesen Anblick nicht begrübeln. Der schwarze Kompaktmann rannte auf ihn zu und stieß ihm ein Messer ins Herz. Wo ist die Sonnenbrille geblieben, dachte Richard, als er das Gesicht mit der fleischigen Nase so unbegreiflich nah vor sich sah. Der Ausdruck darin war nicht zornig, er wirkte methodisch, fachmännisch. Richard ging in die Knie, vom warmen Blut ganz naß sein Bauch, das fühlten seine Hände. So lange er konnte, schaute er zum offenen Tor hinaus. Im Lichtfraß stand sein Mädchen. Ob es? Er wehrte sich gegen den Gedanken und kippte zur Seite.
Fast zwei Monate dauerte es, bis die Eltern Richards in Paderborn davon erfuhren, daß ihr Sohn in Manaus zu Tode gekommen war. Rasch war der Tote gefunden worden, ausgeraubt, ohne Papiere. Der Paß tauchte erst sechs Wochen später auf einer Müllkippe wieder auf. Vom Hotel aus wurde schon am nächsten Tag gemeldet, daß ein Gast fehlte, aber der fehlende Gast hatte sich mit so krakeliger Schrift eingetragen und der Portier es versäumt, seinen Paß einzubehalten, daß der Name nicht eindeutig festgestellt werden konnte. Den ersten Hinweis fand die Polizei in einem schweren Buch, das aufgeschlagen auf dem Nachttisch seines Hotelzimmers lag: Richard P. stand in einer schülerhaften Schrift auf dem Vorsatzblatt. Erst Wochen später kam Gewißheit auf, daß es sich bei dem Getöteten um einen jungen Mann aus Deutschland handeln mußte mit Namen Richard Pettersen. Sein Mörder wurde nie ermittelt.
Als der Vater in Manaus anlangte, um die Leiche seines Sohnes nach Deutschland zu überführen, erwartete ihn eine böse Überraschung: sie konnte nicht gefunden werden. Wahrscheinlich war sie zusammen mit anderen Todesopfern, die lange unidentifiziert geblieben waren, irgendwo verscharrt worden.
Hermann Pettersen hatte viele Nöte und Bitternisse zu erleiden; ohne ein Wort Portugiesisch und mit schlechtem Englisch, mit lauer Unterstützung seitens der deutschen Botschaft, eilte er tagelang von einem Amt zum anderen, nur um verwirrende und ausweichende Auskünfte darüber zu erhalten, was genau mit seinem Sohn geschehen war und wo die Leiche geblieben sein mochte. Er mußte ohne Sarg zurückfliegen.
In Münster wiederum erfuhr man erst ein halbes Jahr später von Richards Tod. Seine Wohnung hatte er gekündigt, keiner der Freunde und Kommilitonen stand mit Richards Eltern in direkter Verbindung. Die Zeitungen berichteten nicht über den Mord. Zufällig verbreitete sich die Nachricht über eine alte Schulkameradin Richards, die ihren Studienplatz nach Münster verlegt hatte. Gerhard hatte sich schon gewundert, weshalb die Briefe des Freundes so lange ausblieben; in immer längeren Abständen zwar, aber doch mit einiger Regelmäßigkeit waren sie bisher eingetroffen.
Nun hatte Gerhard also auch noch Richard für immer verloren. Das brachte ihn dazu, strenger als bisher zu arbeiten. Münster war ihm verleidet. Er wollte möglichst rasch fort. Zwei Jahre später lebte er schon in München, trat dort seine erste Assistentenstelle an und lernte eine Münchnerin kennen, die kurz darauf seine Frau wurde.
Hansis Wege waren komplizierter. Auch sie führten bald aus Münster hinaus. Zunächst nach Zürich, dann nach Berlin, mehrmals zwischen den beiden Städten hin und her, dann endgültig nach Berlin. Einen Abschluß machte er an keiner der Universitäten, an denen er Vorlesungen besuchte. Allerdings erregte er in Berlin einiges Aufsehen, als er in der Bleibtreustraße, nahe dem Kurfürstendamm, eine philosophische Beratungspraxis eröffnete und in großflächigen Anzeigen mit verhackstückten Blumenbergzitaten dafür warb — Was ist ein angemessenes Sterbebettfazit? Sorgen Sie rechtzeitig vor! hieß es da, oder: Jeder Mensch bestätigt sich darin, gewisse Proben zu bestehen, und er scheitert daran, in ihnen erlegen zu sein. Bei mir lernen Sie besser scheitern!
Seine Kommilitonen in Münster hatten übrigens richtig vermutet — Hansi war vermögend und konnte tun und lassen, was er wollte. Über die Jahre war sein Vortragsdrang erlahmt. Solange er seine Praxis betrieb, wo er meist in einem weißgekalkten Behandlungszimmer saß und wartete, sah man ihn nicht mehr mit seinen Gedichten und dem verbeulten Blechaschenbecher die Cafés abklappern. Durch die geschickten Anzeigen angelockt, waren in seiner Praxis anfangs einige Neugierige erschienen; sie wurden zeremoniell empfangen und in einen Wassily Chair gesetzt, aber selbst die Verrücktesten unter ihnen kehrten nicht wieder. Hansi war und blieb ein Solitär. Unfähig, Menschen zuzuhören, war er nur fähig, sie von seinem Schreibtisch aus niederzusprechen, wobei er seine Patienten selten ansah, sondern auf ein Acrylbild an der gegenüberliegenden Wand starrte, das einen ins Wasser eintauchenden Schwimmer zeigte. Eine solche Behandlung ließ sich kaum jemand zweimal gefallen, der sich ratsuchend zu ihm verirrt und am Ende der einstündig auf ihn niedergegangenen Tiraden hundert Mark zu erlegen hatte.
Hansis alter Drang lebte aber sofort wieder auf, als die Praxis einging. Allerdings trat er jetzt nicht mehr mit Gedichten an die Wirtshaustische heran, sondern mit selbstentworfenen Traktaten, womit er sich bei den Gästen noch schneller verhaßt machte, als er es mit den Gedichten getan hatte. Auf den Aschenbecher verzichtete er. Offenbar erschien es ihm unbillig, in der Öffentlichkeit Geld zu verlangen, wofern es sich nicht um eine ästhetische Darbietung handelte, sondern um Weckrufe von ihm selbst.
So schritt die Zeit voran, und Gerhard sollte mit seiner Prophezeiung recht behalten, vielleicht nicht mit dem Wangenzucken, aber mit allem anderen. Beängstigend schnell hatte sich Hansis Verfall vollzogen. Nach wenigen Jahren gab es nicht mehr den schmucken Hansi von ehedem, der Nacht für Nacht durch die Kneipen von Kreuzberg und Charlottenburg geisterte: Hansi war heruntergekommen. Ein geschultes Auge hätte vielleicht erkennen können, daß seine Kleidung einstmals eine sehr gute gewesen war; jetzt war sie abgeschabt und verschmutzt. Das Haar, vor der Zeit grau und schütter geworden, trug er noch immer lang. Mit seinen markanten Zügen sah er fast aus wie Antonin Artaud in den späten Verwitterungsphasen, da fehlende Zähne den Mund hatten zusammenfallen lassen.
Als sich die Mauer öffnete, steigerte sich Hansi in eine große Erregung hinein. So viele neue Menschen, die orientierungslos herumirrten und die es zu wecken galt!
1991, an einem späten Donnerstagnachmittag im Oktober, da das Gewühle im Bahnhof Zoo besonders groß war, faßte er unten in der Halle vor dem Aufgang zu den Zügen Posten. Neben sich hatte er einen alten Pappkoffer gestellt. Einige Minuten fixierte er die Passanten, die, ohne ihn weiter zu beachten, an ihm vorbeiströmten. Mehr aus Gewohnheit, nicht weil er ihn brauchte, nahm er einen Zettel aus der Hosentasche und erhob die Stimme. Hansi hatte nie eine volltönende Stimme besessen, jetzt strengte er sich mächtig an, durch die hohe Halle zu dringen, und kam darüber ins Kreischen. Mit angespannten Halssehnen empfahl er den Passanten die Heimkehr zu sich selbst.
Von einer Wüste der Traurigkeit seid ihr umgeben! schrie er die Leute an, von denen nur wenige zu ihm hersahen und noch wenigere ihre Schritte verlangsamten. Sie dachten, ein alkoholisierter Krawallmacher brülle sie an.
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