Sie wurde angehupt. Sie hatte das Licht nicht aufgedreht. Sie schaltete das Licht ein.
Auf dem Parkplatz des Hotels. Die Heizung hatte das Auto endlich warm gemacht. Sie hatte auf die höchste Stufe geschaltet und sich aufgewärmt. Sie blieb im Auto sitzen. Sie sah den Schneeflocken zu, wie sie auf der Windschutzscheibe auftrafen. Einen Augenblick waren sie noch Schneeflocken, dann zerrannen sie zu winzigen Tropfen. Das Schlimmste war der Kaschmir gewesen. Die Erinnerung an diesen weichen, seidig glänzenden schwarzen Stoff gegen ihre Vliesjacke. Gegen ihren Arm. Wie dieser Stoff gegen ihre kalte Hand. So leicht gelegen. Und ihr plötzlich die Tiere einfallen hatten müssen und wie sie geschoren wurden. Wie sie, an den Hinterbeinen gehalten, geschoren wurden. Wie die Wolle um sie im Abdruck ihrer Körper zu liegen kam und die bleich rosigen Körper davonsprangen.
Sie saß da. Das Auto kühlte aus. Im Motor knackte es. Sie war so ein bleich rosiger Körper, dachte sie. Aber warum sprang sie nicht davon. Was machte sie so. Drückte sie nieder. Wieder fiel ihr der Kaschmirstoff ein. Wie die Arme von ihm und ihr. Wie die Ärmel. Nebeneinander. Und wie elend sie dabei. Und jetzt. Sie blieb sitzen. Nach und nach stockten die winzigen Tropfen, und eine verschwommen schlierige Schicht Eis bildete sich.
Sie wusste nicht gleich, dass sie in London war. Wellington Square. Im Haus von Marina. Sie lag in einem kleinen Zimmer mit sehr niedriger Holzdecke. Das Holz weiß gestrichen. Eine gestreifte Tapete an den Wänden. Himmelblau und weiß mit einer Rosengirlande. Auf weißem Untergrund waren die Rosen rosenrot. Auf dem blauen Untergrund waren sie weiß. Das war das andere Dienstmädchenzimmer auf Wellington Square. Melvin wohnte im anderen. Melvin, der schwedische Au-pair-Boy.
Es war kalt im Zimmer. Sie griff unter der Decke heraus nach der Heizung. Lauwarm. Gerade nicht kalt. Sie zog die Hand zurück. Die Tante Marina hatte die Heizung so sparsam eingestellt, dass hier oben gerade nichts einfror. Sie setzte sich auf und schaute nach. Der Heizungsschalter war auf die höchste Stufe gestellt. Die Heizung war einfach schwach. Sie musste ins Badezimmer laufen und dann gleich die Dusche aufdrehen und das Badezimmer mit dem Wasserdampf aufheizen. Dann konnte sie sich nicht im Spiegel sehen, aber wenigstens war es im Badezimmer dann angenehm. Angenehmer.
Aber sie fühlte sich wohl. Sie lag still. Ja. Sie fühlte sich wohl. Klar. Innen war alles klar. Diese Magenverstimmung oder was das gewesen war. Dieses Elend tief in der Mitte. Es war weg. Sie hatte Hunger. Sie würde heute frühstücken. Sie würde zu» Whole Foods «wandern und dort ein riesiges, gesundes Frühstück essen. Obstsaft. Porridge. Kaffee. Alles frisch und bio. Und dann in den Park. Und dann. Was dann.
Sie verschränkte die Hände hinter dem Kopf. Was sollte sie dann tun. Sie hatte in Wien sein wollen. Mit dem Mammerl zum Ausverkauf. Sie war aber gefangen. Gefangen in London. Die Marina hatte aus Italien nicht zurückkommen können. Wegen des Schnees. Kein Flugverkehr wegen des Schnees. Dabei war es nicht so viel. Hier. In der Stadt. Da lag Schnee nur noch auf den Grasflächen. Überall sonst war er vom Wind fortgeblasen oder geschmolzen. So kalt war es dann doch nicht. Es reichte nur dazu, dass dieses Zimmer eiskalt war. Sie zog die Decke bis zum Mund herauf. Drehte sich auf die Seite. Dann schlug sie die Decke weg und stand auf. Sie war taumelig und ging schnell zur Toilette. Sie musste auf den Gang hinaus und in das Badezimmer zwischen den beiden Zimmerchen. Sie gähnte noch an der Tür und wollte die zwei Schritte über den Gang machen. Sie blieb stehen. Musste stehen bleiben. Ein schneidendes Gefühl in der Scheide. Glatt. Schneidend. Ganz kurz. Dann war ihr Slip feucht, und es rann Blut den rechten Schenkel hinunter. Warm und klebrig. Sie raffte das Nachthemd zwischen die Beine und ging ins Badezimmer. Sie horchte noch, ob sie etwas von Melvin hörte. Sie versperrte die Tür hinter sich. Leise. Melvin nicht aufzuwecken. Sie stand da. Hielt mit der rechten Hand das Nachthemd zwischen die Beine. Es rann nicht mehr. Aber es war etwas Festes durch ihre Scheide gerutscht. Etwas Festes, das einen scharfen Rand haben musste. Nicht scharf genug für einen richtigen Schnitt. Aber scharf genug, in Erinnerung zu bleiben.
Sie stellte sich dann in die Dusche. Der Boden da noch kälter, und sie begann zu zittern. Im Badezimmer war es richtig kalt. Der kleine Heizkörper unter der Dachluke auf null gestellt. Sie konnte es von der Dusche aus sehen. Sie hatte gestern aufgedreht. Melvin musste wieder abgedreht haben. Wahrscheinlich hatte Melvin den strengen Auftrag, keinerlei Energiekosten zu verursachen. Sie musste ja auch in der Küche ganz unten bleiben. Alle übrigen Räume waren ungeheizt.
Sie zog das Nachthemd weg. Es war nicht so viel Blut. Sie versuchte zu glauben, dass das alles normal war. Der Versuch gelang nur kurz. Die Regel. Eine Menstruation. Menses. The Days. The Cycle. The Period. Der Besuch. Die Regelblutung. Monatsblutung. Blutung. Das war längst fällig gewesen. Sie hatte nicht genau gewusst, wann. Sie hatte nur gewusst, dass es ausgeblieben war. Sie hatte sich aber keine Sorgen gemacht. Sie hatte keinen Sex gehabt. Seit dem surfcamp im Sommer nicht mehr. Es konnte nichts sein, und sie hatte es genossen. Keine Verhütung. Keine Anstrengung. Kein Gedanke an das alles. Sex, das hatten alle anderen, und sie hatte sich abgewendet. Aber während sie das Nachthemd auseinanderfaltete und das Höschen hinunterzog. Das hier. Das war etwas anderes. Sie wusste nicht, was. Aber normal war da nichts. Das ließ sich nicht glauben. Sie ließ den Slip auf den Boden der Dusche gleiten und hockte sich auf den Rand der Duschtasse.
Es sah aus wie ein Stück Leber. Es war glattes Gewebe. Dunkelbraunrot. Glänzend. Und etwas hing weg. Sie hob dieses Ding auf. Beim Angreifen. Wie Leber. Es war warm und rutschig. Sie schaute genau. Dann war das Zittern zu stark. Sie musste wieder aufstehen. Sie wollte das Ding in die Toilette werfen. Sie hatte ein Handtuch zwischen die Beine geklemmt und stand vor der Toilette. Starrte in die Toilette. Dann nahm sie die Seifenschale vom Rand der Waschmuschel. Sie kippte die Seife in die Toilette. In der linken hielt sie das Ding. Vorsichtig. Auf der Handfläche. Sie konnte sich im Spiegel sehen. Ihre Haare wirr um den Kopf und die Schultern. Das graue Nachthemd vorne verballt und fleckig. Sie. Die linke Hand verdreht. Sie hielt die linke Hand ihrem Spiegelbild hin. Aber sie wusste nichts. Ihr war elend. Aber anders. Anders elend als in den letzten Wochen. Sie ließ Wasser über die Seifenschale rinnen. Die Seifenschale oval mit einem Blumenkränzchen am Rand. Blitzblaue Blümchen. Sie schaute dem Wasser zu, wie es sich in der Seifenschale fing und drehte und dann über den Rand davonrann. Das Wasser wurde dann heiß. Der Dampf in der kalten Luft. Stieg auf und begann, den Spiegel zu beschlagen. Sie drehte ab. Trocknete die Seifenschale mit einem Handtuch ab. Legte das Ding hinein. Sie ging in ihr Zimmer zurück. Stellte die Seifenschale mit dem Ding auf das Fensterbrett. Es gab sonst nichts, etwas abzustellen. Bett. Sessel. Kasten. Nicht einmal ein Nachtkästchen. Sie musste telefonieren. Sie musste mit jemandem reden. Sprechen. Beraten. Fragen. Sie nahm die Daunendecke um den Leib und lief hinunter. An Selinas Apartment vorbei die Stiegen hinunter. Marinas Schlafzimmer im nächsten Stockwerk. Marinas Studio. Noch ein Stockwerk tiefer. Sie riss die Tür auf. Es war warm hier. Hier war die Heizung voll aufgedreht. Sie ging an den Schreibtisch zum Telefon. Sie setzte sich in den breiten Chefsessel da. Die Tuchent rund um sich. Wen sollte sie anrufen. Sie fühlte Blut warm und klebrig zwischen den Beinen. Angst überfiel sie. Sie bekam keine Luft. Konnte sich nicht bewegen. Sie hätte nicht schreien können. Die Angst hämmerte in ihrem Kopf und in der Brust. Schlug gegen die Brust innen. Tobte bis in die Fingerspitzen. Sie starb. Sie war sicher. Wusste. Klar und eindeutig. Sie starb jetzt.
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