Dritter Teil. … in Ewigkeit
Mit einem Handtuch um den Körper stand sie im Schlafzimmer und sah hinaus in die im Sinken begriffene Sonne. Spürte das Pulsieren der Müdigkeit in Schenkeln und Waden. Die Musik wehte so leise über den Ort, dass Kerstin einen Moment lang nicht wusste, ob das Geräusch vielleicht nur ihrer Erinnerung entsprang. Die Balkontür war angelehnt, im Garten wuchsen die Schatten, und unten auf der Terrasse hörte sie, wie ihre Mutter mit Daniel sprach, ihn offenbar auf dem Arm hielt und ihm die Blumen erklärte oder die Vögel oder was sonst seine Aufmerksamkeit erregte. Seit er begonnen hatte nachzuplappern, was man ihm vorsagte, wuchs die Konzentriertheit seines Blicks und griffen seine Hände nach allem, was in Reichweite war. Jeden Tag entdeckte er Neues in der Welt und sog es in sich auf, nicht mehr mit dem Mund, sondern dem sich aufrichtenden Verstand des Zweijährigen. Sie konnte sich nicht sattsehen daran.
«Habutten«, hörte sie ihn rufen und fragte sich, ob ihre Mutter verstand, was er wollte.
Vorne auf der Wiese sah sie die beiden auftauchen und auf die große Hagebuttenhecke zugehen, von der ihre Mutter mit der freien Hand eine Frucht abpflückte und sie ihrem Enkel reichte. Kerstin widerstand dem Impuls, auf den Balkon zu treten und den beiden etwas zuzurufen. Ein später Sommernachmittag glänzte über dem Ort, in der Stunde zwischen fünf und sechs. Sogar der Grenzgang pausierte für einen Moment, und durch die beigen, vor der Balkontür halb zugezogenen Gardinen floss ein warmer Schimmer. Ihre Mutter hielt die Wange dicht an Daniels Gesicht, wenn sie mit ihm sprach, genau wie sie selbst es immer machte, angezogen von dem milchig süßen Aroma seiner Wangen. Manchmal kam es ihr unwirklich vor: mit dreißig Jahren im eigenen Haus zu leben, mit Mann und Kind, diesen festen Platz im Leben zu haben. Anita hatte ein spöttisches Gesicht gemacht bei ihrem ersten Besuch im noch nach Farbe riechenden Haus. Liebevoller Spott, der sich nur scheinbar auf gewisse Möbelstücke richtete und den Kerstin ihr nicht übel genommen hatte, sondern selbst empfand, wenn sie den Blick über die Küchenarmaturen oder die strahlend weißen Kacheln im Bad streichen ließ. Dann schaute sie ihr Leben an wie einen Film, erstaunt darüber, dass die Hauptdarstellerin ihr zum Verwechseln ähnlich sah.
Daniel holte aus und schmiss die Hagebutte zurück in die Hecke.
Kerstin trat einen Schritt von der Balkontür zurück, bevor sie sich das Handtuch abnahm und durch die nassen Haare rubbelte. Ihre Füße sahen platter und breiter aus nach dreitägiger Wanderung, und beinahe glaubte sie das Blut durch ihre Adern strömen zu spüren, vom Kopf bis in die Zehenspitzen. Merkwürdig, dass dieses Gefühl der Unwirklichkeit, das in letzter Zeit immer schwächer geworden war, sich jetzt so deutlich in ihr breitmachte. Und mit dem Verlangen einherging, ihren Mann zu umarmen, der jeden Moment aus dem Bad kommen musste.
Im Garten erklang glucksendes Lachen.
Es hatte sich alles gefügt in diesem Sommer. Sie war angekommen in ihrem Leben oder hatte es eingeholt, jedenfalls wurde sie nicht länger von dem Gefühl geplagt, zu schnell aufgebrochen zu sein in ein Dasein jenseits der studentischen Ungebundenheit. Das hier war ihr Haus, im Garten spielte ihr Sohn, und im Bad hörte ihr Mann endlich auf zu duschen und brauchte danach erfahrungsgemäß keine Minute mehr, bis er durch den Flur ins Schlafzimmer gehuscht kam. Es war schnell gegangen nach der Uni. Sie hatte ein Kind bekommen, als ihre Kommilitoninnen begannen zu arbeiten, ihre eigenen Tanzstudios aufmachten oder saisonweise in Ferienclubs jobbten und mit den Animateuren schliefen. Während der Schwangerschaft hatte sie sich abgehängt gefühlt, abgekoppelt vom Leben, gefesselt an ihren aufgeblähten Bauch und das Haus mit dem Garten voller Bauschutt. Die anderthalb Jahre nach der Geburt waren wie im Flug vergangen, und was man gemeinhin Mutterglück nannte, hatte vor allem in permanenter Erschöpfung bestanden: das Aufstehen nachts, das Windelwechseln, das Gefühl in einem Laufrad zu stecken, das sich immer einen Tick zu schnell drehte und sie ins Straucheln brachte. Wenn Jürgen aus dem Büro kam, lehnte sie sich stumm an seine Schulter und bewunderte ihn für seine Gelassenheit, über die sie sich insgeheim auch ein wenig ärgerte.
Und dann — natürlich hatte es nichts mit Grenzgang zu tun, wie Jürgen hartnäckig behauptete, sondern damit, dass Daniel nachts durchschlief und zwei oder drei Mal in der Woche Frau Richter für einen Vormittag vorbeikam und ihr die Hausarbeit abnahm. Jedenfalls schien Dreißig ihr plötzlich das perfekte Alter zu sein. Sie hielt sich nicht mehr mit dem Zählen von Schwangerschaftsstreifen auf, sondern freute sich, dass diese Prüfung hinter ihr lag, wahrte ohne Anstrengung ihr Idealgewicht und hatte erst kürzlich zugegeben, Anita habe doch Recht gehabt mit ihrem von jeher gepredigten Mantra: Mit dreißig erreichst du den Gipfel deiner sexuellen Genussfähigkeit.
Dann hörte sie endlich Schritte im Flur und fühlte sich für einen Moment verlegen, weil sie immer noch splitternackt im Schlafzimmer stand, den BH offen über den Schultern.
Er hatte sich nicht abgetrocknet, nur ein Handtuch um seine Hüfte geschlungen, und ging etwas breitarmiger als sonst, etwas flacher atmend, den Waschbrettrillen auf seinem Bauch zuliebe.
«Hilfst du mir?«Sie wandte ihm den Rücken zu und hielt die Haare mit einer Hand zusammen, als trüge sie ein Abendkleid, das sie ihn bat zuzuziehen. Albern, er lachte zu Recht, sagte aber nichts, sondern trat hinter sie in einer Wolke aus Duschbad und Feuchtigkeit. Ein leichtes Klopfen der Erwartung mischte sich in das Kribbeln ihrer Haut. Der BH fiel auf ihre Zehen. Ein Wassertropfen rann aus seinem Haar über ihre Schulter, gleichzeitig kühl und warm.
«Meine Mutter wird gleich rufen, weil Daniel Hunger kriegt. «Sie sprach in ihre aufkeimende Lust hinein, verträumt und ohne Überzeugung. Drehte den Kopf hin und her, weil da seine Schulter war, ein paar Bartstoppeln, duschkühle Haut. Ihre Hände tasteten langsam über das Handtuch, dorthin, wo es sich zum Zelt zu formen begann.
«Steht alles auf dem Tisch. Unten. «Zwischen Tisch und unten leckte seine Zunge über ihr Ohrläppchen, dann standen sie einen Moment vollkommen still. Ihre Brustwarzen zwischen seinen Fingerkuppen, nicht länger wund und Teil der Funktionalität des Muttertiers, sondern die Lustspender von früher, etwas dunkler geworden, größer und umso leichter zu handhaben. Sie hielt die Augen weit offen, sah in den Garten hinaus und über die Dächer des Ortes. Auch die Luft stand still, draußen.
In seiner Umarmung drehte sie sich um, nahm ihm das Handtuch ab und sagte:
«Legen wir uns doch hin.«
Noch einmal erklang Lachen im Garten, dann war ihr Gesicht zu nah an seinem Atem, um anderes zu hören. Zahncreme und Bier, scharf und herb, sie fuhr mit der Zunge hinein und wieder heraus, seinen stoppeligen Hals hinab und begann Wassertropfen aus seinen Brusthaaren zu saugen. Musste ein Lachen unterdrücken. Vielleicht hatte sie auf dem Frühstücksplatz doch eins zu viel getrunken. Sex zwischen Eheleuten war schließlich das Normalste von der Welt, aber genau genommen war es das überhaupt nicht, sondern ein kompliziertes Spiel aus Lust und Gegenlust. Sie hätte ihn gerne gefragt, was er darüber dachte, gerade in diesem Augenblick und mehr, um ihn ein bisschen zu foppen, stattdessen verrieb sie mit der Daumenspitze einen Glückstropfen und nahm seinen Schwanz in den Mund. Seit Neuestem stutzte er sein Schamhaar; eine Maßnahme, die ihr im Ergebnis angenehm, aber in der Motivation unklar war, jedenfalls solange sie darin keine Aufforderung sehen wollte, es ihm gleichzutun. Sie mochte das Gefühl der nackten, festen Kugel in ihrer Hand, in der zwei kleinere Kugeln sich träge bewegten. Sie kauerte sich zusammen, legte ein Ohr auf seine Lenden, hielt ihn nur mit den Lippen fest und freute sich über die glückliche Position seines Schienbeins.
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