«Hör zu«, sagt Thomas jetzt, und Anni kann sich vorstellen, wie er vor der Klasse steht und mit dieser ruhigen, festen Stimme … Im Grunde ist ja diese männliche Stimme Beweis genug, und sie könnte aufhören, sich solche schlimmen Gedanken zu machen, die am Ende doch nur dazu führen, dass sie vor dem Schlafengehen einen Wacholder trinken muss. Und manchmal noch einen für Heinrich. Wie bestimmt er das jetzt sagt:»Genau wie an jeder anderen Schule gibt’s auch an unserer manchmal Streit zwischen Schülern. Manchmal haben jüngere Schüler Probleme mit älteren — dann gibt es Lehrer, die sich darum kümmern. In manchen Fällen die Schulleitung. Aber wenn du glaubst, du könntest so eine Geschichte benutzen, um dich«— Thomas’ Finger weist nach draußen so wie vorher der von Lars —»an unserem ›Staranwalt‹ zu rächen, dann hast du etwas abenteuerliche Vorstellungen von deinem Beruf. Bleib lieber bei deinen Schützenvereinen und Goldenen Hochzeiten.«
«Gab’s Erpressungen, ja oder nein?«
«Nein, gab es nicht.«
«Is doch ne klare Aussage. Tschüss, Anni.«
«Tschüss, Lars. Grüß deine Eltern, ja?«
«Wird gemacht. «Dann ist er aus der Tür, und eine halbe Stunde später ist auch ihr Neffe gegangen, und Anni schließt den Laden ab. Wie immer hat er die Einladung zu einer Tasse Kaffee oben im Wohnzimmer abgelehnt. Sie tupft sich mit den Handrücken gegen die Augen, während sie durch den winzigen Flur zwischen Laden und alter Backstube geht. Hätte sie ihn fragen sollen? Ist es denkbar, dass er ihr so etwas antun würde? Im Treppenhaus hängen gerahmte Bilder an den Wänden; Anni hat es so eingerichtet, dass unten die ältesten Aufnahmen hängen: Familienfotos von vor ihrer Geburt, sie und Ingrid in ihren Sonntagskleidern, dann bei der Konfirmation in der Stadtkirche. Und so geht es die Treppe hinauf: Hochzeit, Heinrich bei der Entgegennahme des Meisterbriefes (fällt kaum auf, dass es sich in beiden Fällen um denselben Anzug handelt), Aufnahmen der Neffen und Nichten. Thomas Weidmann mit Schultüte. Mit zu langen Haaren. Schließlich mit Doktorurkunde und widerwilligem Gesichtsausdruck. Und natürlich Grenzgangsbilder: Erst schwarz-weiß, dann farbig, die Aufstellung auf dem Marktplatz und die feiernde Menge auf den Frühstücksplätzen. Alles ist üppiger und größer geworden im Lauf der Jahre. Bilder von Heinrich im Mohrenkostüm füllen den Flur im zweiten Stock. Eine ganze Reihe von Verwandten und Bekannten, wie sie von ihm gehuppcht werden. Lachende Gesichter mit schwarzen Backen. Nur entlang der Treppe zur Dachkammer ist noch Platz für die Fotos vom kommenden Grenzgang — und falls doch noch ein Wunder geschieht und ihre Gebete erhört werden: Für die Bilder von Thomas’ Hochzeit.
Sie steht in der Essdiele und weiß nicht, was sie weniger mag: die Stille im Haus oder ihr Horchen. Eine profunde Stille, ein Schweigen der Wände, in denen nicht mal ein Heizungsrohr oder die Wasserleitung gurgelt. Draußen sieht der Abend bereits wie Mitternacht aus. Sie hat im Wohnzimmer gesessen und in der Brigitte geblättert, bis ihre Mutter hereinkam, im Bademantel, am Stock und ohne Zähne, um Gute Nacht zu sagen.
— Gute Nacht, Mutter.
— Bitte?
— Gute Na-hacht.
— Ja. Sind die Fensterläden alle unten?
— Alles in Ordnung.
— Kopfschmerzen sind das wieder, ich …
— Du musst dich einfach hinlegen.
Zehn Sekunden später hat sie den Kopf zur Tür gewandt und ist dem Blick ihrer Mutter begegnet und hat noch einmal Gute Nacht gesagt. Dann noch mal. Schließlich ist sie aufgestanden und in die Küche gegangen, ohne zu wissen, was sie dort will, und nun steht sie in der Essdiele, versucht sich zu erinnern, was sie zuletzt gelesen hat im Wohnzimmer, und weiß auch das nicht mehr. Alles weg bis auf ein Summen hinter den Schläfen und diese unheilvolle Stille. Horcht sie darauf? Den ganzen Tag über hat sie versucht, einen klaren Gedanken zu fassen, und ist in diesem Moment noch erschöpfter von der vergeblichen Anstrengung als von der Arbeit im Garten. Kein Laut kommt aus Daniels Zimmer. Sie wäscht sich in der Küche die Hände. Den Gedanken, seinen Klassenlehrer anzurufen, hat sie verworfen oder zumindest verschoben, erst muss sie mit Daniel sprechen. Zypiklon ist auch keins im Haus. Sie öffnet den Kühlschrank, nimmt die Flasche Sekt heraus und sieht sich im Küchenfenster stehen, gegen die Anrichte gelehnt, die Flasche in beiden Händen. Bei Meinrichs ist alles dunkel hinter den großen Fenstern. Einmal ist Daniel am Nachmittag kurz auf der Terrasse aufgetaucht, sie hat ihn gesehen unten vom Beet aus, wie er eine Scheibe Brot und ein Stück kaltes Huhn aß, in sich selbst versunken und mit einem Blick im Gesicht, der sagte: Nicht näher als zehn Meter. Sie weiß nicht einmal, ob er sie überhaupt bemerkt hat da unten zwischen den Sträuchern.
Auf dem Esstisch stehen die Veilchen und haben viel von ihrem Zauber eingebüßt. Anitas Anruf steht noch aus, ansonsten ist ihr Geburtstag vorbei.
Er war dabei, hat Jürgen gesagt. Da wurden jüngere Mitschüler geschubst und unter Druck gesetzt, und auch ein paar Euro haben den Besitzer gewechselt. Ist das Erpressung? Für Jürgen eindeutig ja, aber der hat es nun mal gerne, wenn die Dinge sich juristisch präzise benennen lassen. Ihr dagegen fällt kein Wort ein für das Geschehen, also hat sie die Beete bearbeitet mit einem wahren Furor und nur manchmal innegehalten, um sich zu fragen, wie sehr die Nachricht von Andreas Schwangerschaft sie verletzt. Die Nachricht als solche wohlgemerkt, nicht etwa die Aussicht auf finanzielle Konsequenzen. Nicht allzu sehr, lautet die offizielle Antwort. Zum Glück gibt es Dinge, über die sie sich mehr Sorgen machen muss. Aber jetzt am Abend, während andernorts vielleicht Namen erwogen und lachend wieder verworfen werden, kommt die Diele, kommt das ganze Haus ihr schäbig vor. Leer und dämmrig.
Kerstin entfernt die Metallfolie vom Korken der Sektflasche. Unterdrückt ein Lachen, als ihr einfällt, dass Anita nie Prost oder Zum Wohl sagt, sondern immer: Alkohol ist keine Lösung. Die Folie wirft sie einfach in die Spüle. Ihre Finger sind müde vom Fassen der Hacke, ihr Rücken vom Bücken, ihre Schultern vom Zerren an dem hölzernen Griff. Die Kühle des Glases tut gut in den Handflächen, aber das ist das Einzige, was in diesem Moment guttut, und Selbstmitleid ist auch keine Lösung.
Plopp.
Herzlichen Glückwunsch, denkt sie und nimmt den ersten Schluck aus der Flasche, bevor sie im Schrank nach zwei Gläsern sucht. Trinkt sie sich hier Mut an für eine Unterredung mit Daniel, dem Schrecklichen? Einen Moment lang steht sie in der Küche und stellt sich vor, die offene Flasche durchs geschlossene Fenster zu schleudern, aus ihrer Küche raus und ins Meinrich’sche Badezimmer rein. Dazu den Blickkontakt mit Frau Meinrich durch zwei geborstene Fenster. Ihr Kopfschütteln: Erst lässt die Frau Nachbarin ihre Hecke wuchern, und jetzt wirft sie mit Söhnlein Brillant . Hermann, kommst du mal?
Noch einmal setzt sie die Flasche an.
Es ist schwierig, die eigene Wut zu domestizieren, wenn sie so hin und her schwankt zwischen Hass und diesem anderen Gefühl. Er hat sich kaum verändert (denkt sie jedes Mal, wenn sie ihn sieht). Äußerlich nicht und auch sonst: Strahlt immer noch dieses Selbstbewusstsein aus, das sie einen winzigen Moment lang für ihn einnimmt, gegen ihren Willen und obwohl sie weiß, dass es sich eigentlich nur um eine Leihgabe der Umgebung handelt. Einmal hat sie zu ihm gesagt: Du passt hierher, als hätte man den Ort für dich erfunden, aber in Wirklichkeit gilt das Umgekehrte. Der Ort hat ihn erfunden und zu dem gemacht, der er ist. Bloß kann sie schlecht behaupten, das nie attraktiv gefunden zu haben: seine Einfachheit und Durchschaubarkeit. Sogar diesen Anflug von Selbstverliebtheit hat sie gemocht, solange er ein Beitrag zu Ausgeglichenheit und ehelicher Harmonie war. Er verfügt über diese ebenso beneidenswerte wie verabscheuungswürdige Begabung, stets mit sich im Reinen zu sein, notfalls ganz grundlos. Ein Mann, ein Wort, breite Schultern, ein Schwanz. Jemand, der hält, was er verspricht, und keinen Deut mehr.
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