«Nach Amerika? Aus Bergenstadt?«Sie spricht über die Schulter, mit einem plötzlichen Gefühl von Müdigkeit, das ihr den Rücken hinaufkriecht und die Schultern steif macht und sie zwingt, die Hand mit dem Lappen am Rand der Spüle abzusetzen.
«Vor Ewichkeiten halt.«
Sie dreht sich herum und wartet darauf, dass der Schmerz zwischen den Schultern wieder verschwindet. Taubheit, Steifheit, Stechen — immer beginnt es in der Hüfte und breitet sich von da in alle Richtungen aus, je länger der Tag wird.
«Ja«, sagt sie zu ihrem Neffen.»Soll ich dir denn dann was mitgeben für morgen? Der Streuselkuchen hält sich doch.«
«Soll ich dir den Stuhl von hinten holen?«
«Nein, nein, nein. Und was ist mit Brot? Willst du Brot?«
«Danke, Tantchen, ich bin mit allem versorgt.«
Eben nicht, denkt sie, atmet hörbar ein und aus und hält ihm trotzdem einen halben Laib Mehrkornbrot hin. Von wem denn bitte schön versorgt?
Draußen sind die Schatten ein Stück nach oben gewandert, und Mohrherr hat sich aus seinem Fenster zurückgezogen. Nachbarn grüßen im Vorbeigehen. Früher hat sie um diese Zeit mit Heinrich zusammen in der Ladentür gestanden und mit Bekannten geredet, die die Bachstraße hinauf- oder hinuntergingen. In dieser halben Stunde vor Ladenschluss, wenn kaum noch Kundschaft kam und Heinrich den Rat seines Hausarztes ignorierte und eine Feierabendzigarette rauchte. Das Licht erinnert sie daran. In den Jahren seit seinem Tod hat sie nicht aufgehört, mit ihm zu sprechen, abends vor dem Einschlafen oder wenn keine Kunden im Laden sind. Liest ihm sogar aus der Zeitung vor. Berichtet ihm von den Wahlen und Vorbereitungen, von den Schmerzen in ihrer Hüfte und dass sie nicht weiß, ob sie im August alle drei Tage schaffen wird … Mit einem Ruck reißt sie sich aus ihren Gedanken. Bambergers Wagen steht nicht mehr in der Einfahrt. Stattdessen wird bald einer von Scharnwebers vielen Kastenwagen vorfahren, die Heinrich schon vor zehn Jahren Leichenwagen genannt hat, als ob er genau gewusst hätte, was kommen wird. Die Uhr an der Wand zeigt fünf vor sechs.
«So«, sagt sie in Lars Benners Richtung.»Dann schließ ich gleich mal ab hier. «Ein ganzes Blech voll Streuselkuchen, Bienenstich, Puddingplunder und Zupfkuchen steht auf der Ablage vor der Theke. Montags kaufen die Leute Brot, keinen Kuchen. Von dem ungefüllten Bienenstich schneidet sie zwei Stücke ab, steckt sie in eine Tüte und legt sie neben Thomas’ Kaffeetasse auf die Theke.
«Ich bin schließlich deine Tante«, sagt sie streng.
Er nickt durch seine randlose Brille, und in Annis Kopf formt sich die alte, hundert Mal gestellte Frage: Wie kann es nur sein, dass ein solcher Mann …? Einer, der so freundlich ist und studiert hat und einen gut bezahlten Beruf mit Ferien und Pensionsanspruch. Eigentlich gar nicht vorstellbar.
«Setz dich doch ein paar Minuten hin«, sagt Thomas.
«Du bist bestimmt viel zu beschäftigt, um einzukaufen«, murmelt sie. Damals Konstanze und seitdem — sie hält die Ohren offen, aber da sind nicht mal Gerüchte. Wie oft in den letzten Jahren hat sie die Gespräche mit ihren Kundinnen in die entsprechende Richtung gelenkt, aber herausgekommen ist dabei nichts. Niemand weiß was. Dabei hat er an der Schule Kolleginnen, und die können doch nicht schon alle vergeben sein. An Konstanze erinnert sie sich dunkel, die war einmal beim Grenzgang dabei, eine nette Frau, ein bisschen resolut, so wie Frauen aus der Stadt eben sind. Trauert man so einer ein ganzes Leben lang nach?
«Tante Anni?«Mit dem Stuhl in der Hand steht er neben ihr.
«Dos wär wegglich nedd …«Sie will ihn abwehren, aber seine Hand legt sich auf ihre Schulter, sanft und bestimmt — und bestimmt sieht er ihr an, woran sie denkt.
«Ich helf dir mit den Sachen, wenn der Wagen kommt.«
«Der kann jeden Moment da sein.«
Mit einem Nicken stellt er den Stuhl ab. Zu gern würde sie ihn fragen, wie das alles gekommen ist damals. Plötzlich war er zurück in Bergenstadt und hat angefangen am Gymnasium zu unterrichten. Niemand konnte das verstehen, auch Ingrid nicht. Anni, ’s ess mäijen Jongen, awwer äich ho oach kä Ahnunk, wos innem vergädd. Und seitdem keine Frau, jedenfalls wurde ihr keine vorgestellt. Sieben Jahre lang!
Vielleicht ist es ein Rätsel ohne Lösung, aber niemand soll ihr vorwerfen, nicht nach der Lösung gesucht zu haben. Tapfer hat sie alle Möglichkeiten erwogen, darunter auch solche, die zu erwägen ihr nicht leichtgefallen ist. Gebetet hat sie vor dem Schlafengehen, sie möge sich täuschen mit den heikleren unter ihren Gedanken.
«Dann will ich mal«, sagt Lars Benner und legt zwei Euro auf die Theke.
«Grüß deine Eltern«, sagt sie.»Sag deinem Vater, das war ein sehr schöner Artikel.«
«Und sag ihm, Brisbane schreibt man mit ›e‹ am Ende.«
«Thomas!«Sie schüttelt den Kopf wie über die vorlaute Bemerkung eines Kindes und späht nach draußen, aber der Bürgersteig ist leer. Scharnwebers Lieferwagen scheint sich zu verspäten.
Geholfen hat ihr niemand. Waschweibergedanken, war alles, was Heinrich eingefallen ist zu ihren zaghaften Versuchen, das Unaussprechliche zu sagen, ohne es auszusprechen. Also auf Umwegen: die Gepflegtheit seiner Hände, zum Beispiel. Das Rasierwasser und die randlose Brille. Natürlich gefällt das Frauen, aber das ist genau der Punkt, von dem ihre Gedanken ausgegangen sind: Er hat eben keine.
«Sa’ng Sie mir noch eins, Herr Weidmann: Ihre Klasse is doch die 10b, richdich?«Lars Benner hat sich in der offenen Tür noch einmal umgedreht und blickt in Richtung ihres Neffen.
«Unter anderem auch die. «Thomas sortiert Teilchen und dreht sich nicht um beim Sprechen. Oh, sie hat sich Ingrid gegenüber nie auch nur zur leisesten Andeutung hinreißen lassen, sondern den Gedanken erwogen mit aller ihr zur Gebote stehenden Nüchternheit: Die Welt verändert sich, dergleichen kommt vor. Gerüchten zufolge ist es gegenwärtig in Bergenstadt drei Mal … vorkömmlich. Sie will keine Namen denken und beteiligt sich auch nicht an der Weitergabe solcher Gerüchte, aber ebenso wenig kann sie ihren Kunden das Reden verbieten. Sie ist Geschäftsfrau und trägt Verantwortung. Dann hat Anni die Liste entdeckt, ist dankbar für die Ablenkung und konzentriert sich auf das Gefühl, dass es vom Nachmittag noch eine Bestellung gibt, die sie vergessen hat zu notieren.
«Drei Baguettes für Schneider«, murmelt sie, aber die stehen schon drauf.
«Da hört ma ja allerhand neuerdings«, sagt Lars Benner.»Ich mein, da soll ja einiges vorgefall’n sein.«
«Nämlich?«
«Dass jüngere Schüler … so’ne Art Schutzgeldgeschichte.«
Kurz sieht sie auf und begegnet dem Blick ihres Neffen: Unsinn, sagt der lächelnd. Da hat wohl jemand zu viel Phantasie. Woraufhin Anni geständig nickt und sich erinnert, was Heinrich immer gesagt hat: Hirngespinste einer alten Frau. Niemand könnte darüber glücklicher sein als sie selbst. Aber in Wirklichkeit sagt er:
«Lieber Lars, warum sollte dich das interessieren?«
«Wenn an unsam Gymnasium Schutzgeld erpresst wird, interessiert das, glaub ich, ganz Bergenstadt. Da würden Leute dann zu Recht erward’n, dass was inner Zeitung steht. «Lars’ Finger weist durchs Schaufenster hinaus auf die andere Straßenseite.»Der Sohn von unserem Staranwalt, hört ma, soll ja auch dabei gewes’n sein.«
«Daniel Bamberger?«Anni Schuhmann hält sich vor Überraschung eine Hand vor den Mund, beruhigt sich aber schnell wieder. Bamberger ist natürlich keiner der Namen, die ihr zu Ohren gekommen sind. Jürgen Bamberger ist diesbezüglich über jeden Verdacht erhaben, denn nicht nur hat er einen Sohn, nein, er war es auch, der damals Lars Benner seine Andrea weggenommen hat. Aber die beiden Männer in ihrem Laden stehen einander plötzlich seltsam feindselig gegenüber, auch wenn ihr Neffe weiterhin mehr über die Schulter spricht und nach jedem Satz einmal zu ihr hinsieht, als wollte er ihr signalisieren: Unfug, das alles. Mach dir um mich keine Sorgen.
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