Natürlich hatte ich keine Lust. Aber es mir entgehen zu lassen wäre blamabel gewesen. Würde es überhaupt noch einmal eine Demonstration geben, dann an diesem Montag, dem letzten vor dem 7. Oktober 277.
Kaum hatte ich das gesagt, wollte mich Michaela nicht mehr fahren lassen. Immer wieder sprach sie von Krenz, der sei doch gerade erst in China gewesen, man wisse doch, was das zu bedeuten habe. 278
Man könne nicht zehntausend Leute über den Haufen schießen, jedenfalls nicht in Leipzig, und verhaften ließen sie sich auch nicht. Das Auto, sagte ich zum Schluß und gab ihr das zweite Paar Schlüssel, würde ich in der Nähe des Bayerischen Bahnhofs abstellen.
Nach unserem Abschied ging Michaela sogar auf den Balkon und winkte mir nach.
Die Sonne blendete, die späte Wärme ruhte wie ein göttlicher Segen auf diesem Tag. Die Landschaft im Rückspiegel war das Paradies, in das ich nach dieser letzten Prüfung, erfüllt von unzähligen Beobachtungen und Empfindungen, zurückkehren würde.
Gegen vier war ich in der Deutschen Bücherei, bestellte ein paar Titel über Nestroy und fand im Lesesaal einen freien Einzeltisch. Die kaputte Lampe störte mich nicht, im Gegenteil. Mir genügte es, hier sitzen zu dürfen, in diesem Asyl, dieser Arche.
Vor mir lag das Textbuch von» Freiheit in Krähwinkel«. Wenn ich den Ärmel von der Uhr zurückstrich, berührten mich meine kalten Finger wie die eines Fremden.
Ich glaubte, meine Absicht zu verraten, wenn ich Punkt fünf den Saal verließ. Also harrte ich ein paar Minuten länger aus, erkundigte mich nach den bestellten Büchern und ging auf die Toilette. Wer wußte schon, wann das wieder möglich sein würde.
Nachdem ich das Auto am Bayrischen Bahnhof abgestellt und meine polnische Ledertasche im Kofferraum verstaut hatte, schlang ich mir einen leeren Beutel ums Handgelenk, als wollte ich einkaufen.
An einer Fußgängerampel traf ich Patrick, Norbert Maria Richters Regieassistenten.»Schwänzt du?«rutschte es mir heraus. Er antwortete wie ein ertappter Schüler und vermied es, mich anzusehen. Die Frau neben ihm stellte er mir als seine Verlobte Ellen vor.
Wir gingen gerade am Gewandhaus vorbei, als ich zum ersten Mal die Sprechchöre hörte. Ich verstand sie nicht.»Stasi raus«, wiederholte Patrick wie jemand, der etwas zitieren muß, das ihn geniert; er hätte es nicht sanfter sagen können.
Ellen hatte nur bis sieben Zeit. Um acht begann in Connewitz 279ihr Klavierunterricht. Sie und Patrick mutmaßten darüber, ob und ab wann wieder Straßenbahnen fahren würden. Selbst wenn sie zu Fuß gehen müsse, sei Viertel acht ausreichend, sagte er, andernfalls verpasse sie das Beste. Ich hielt es für unangebracht zu fragen, was er unter» dem Besten «verstand.
Ich betrachtete jeden in meiner Nähe von Kopf bis Fuß. Wie ein aufgeregter Hund irrte mein Blick von einem zum anderen, denn jetzt, kurz vor sechs und nahe der Nikolaikirche, konnte es doch niemanden mehr geben, der tatsächlich einkaufen ging oder einfach nur von der Arbeit kam.
Noch am Krochhaus schien nichts auf das Ungeheuerliche hinzudeuten, obwohl ununterbrochen Parolen skandiert wurden.
Auf dem Platz vor der Nikolaikirche standen sie dicht an dicht. Wir kamen nicht weiter und reckten die Hälse. Mir reichte das vollkommen. Ellen jedoch wand und schlängelte sich zwischen den Leuten hindurch, man machte ihr Platz wie einer Kellnerin. Sie wäre weiter vorgedrungen, hätte Patrick nicht einen Bekannten getroffen. Ohne unsere Namen zu nennen, gaben wir uns die Hand.
Ich stellte mich auf die Zehenspitzen. Ich weiß nicht mal mehr, woran ich die Gruppe erkannte, die jene Ungeheuerlichkeiten riefen. War dort mehr Licht? Waren es erhobene Arme? Das Bild, das ich heute von dem Platz vor der Nikolaikirche habe, läßt sich mit dem damaligen nicht zur Deckung bringen. Wie Traum oder Vision erscheinen mir heute die Leute, die Dunkelheit, die warme Luft und jene untergründige Bewegung, die von jener Gruppe ausging.
Statt jedes Detail, jede Schwingung zu registrieren, empfand ich immer weniger. Dabei war ich überzeugt, Historisches zu erleben. Selbst wenn der Budenzauber im nächsten Moment vorbei sein sollte — der Platz war leicht abzuriegeln —, wäre es dennoch der gewaltigste Protest nach 1953 gewesen. Man würde sich bald des 2. Oktober in ähnlicher Weise erinnern wie des 17. Juni.
Die Dämmerung und das dichter werdende Gedränge erleichterten die Ausbreitung der Sprechchöre.
Ich war bereit, jene, die dort im Epizentrum die Rufe erfanden und vorgaben, als Leittiere anzuerkennen und zu bewundern. Aber glaubten sie tatsächlich, sie könnten etwas ändern?
Der Ruf» Neues Forum zulassen «war ein kleines metrisches Kunstwerk, dessen drei letzte Silben wie Fäuste gegen ein Tor schlugen. Mich berührte das eigenartig, als kämpften jene Schreihälse für mich, dafür, meine Mitgliedschaft zu legalisieren. Die Sprechchöre hallten von den Hausfassaden wider. An der Peripherie merkten sie zu spät, wenn sie im Zentrum bereits schwiegen oder eine neue Parole ausgaben.»Neues Forum zulassen«, brüllte Patricks Freund direkt neben uns. Ich gestehe — mir war das peinlich. Obwohl — er hatte seinen Teil getan, ich würde dergleichen nie über die Lippen bekommen.
Im selben Moment, da sie zum ersten Mal» Los-lau-fen!«riefen, glaubte ich Stiefelgetrappel zu hören — es war aber nur eine Schar Tauben, die vom Dach aufflog. Gern wäre ich losgelaufen — die Leute neben mir fielen schon in die Sprechchöre ein —, doch wir steckten mittendrin fest. Einen Moment später waren Ellen und Patrick spurlos verschwunden.
In der Fußgängerzone war kaum zu entscheiden, wo die Demonstration aufhörte und der Alltag begann. Ebenso unklar blieb, welchen Weg die Demonstration einschlagen würde.
In der Hoffnung, Patrick und Ellen wiederzufinden, drückte ich mich an ein Schaufenster. Und erst da begriff ich: Das ist eine Demonstration, hier demonstrieren Leute. Ich brauchte nur ein paar Schritte nach vorn zu machen und dann weiter einen Fuß vor den anderen zu setzen. So einfach ist es also, an einer illegalen Demonstration teilzunehmen, dachte ich.
Ich kann Ihnen nicht mehr sagen, wie wir zum Bahnhof kamen, ob wir bereits vor der Oper abgebogen waren oder erst auf der Ringstraße. Die späteren Bilder überlagern die frühen. Ich sehe uns noch zwischen Häusern, vor Schaufenstern, wie eine Nebendemonstration, die darauf wartet, sich dem Hauptstrom anschließen zu können. Ein Transparent, das zusammengewickelt nicht größer als eine Rangierflagge war, wurde über den Köpfen weitergereicht,»Visafrei bis Shanghai«. Ich sah darin eine Methode, die Fingerabdrücke auf den Stäben zu verwischen. Gerade als es an mir war, den Arm auszustrecken und ein Ende zu übernehmen, brach ein» Gorbi, Gorbi!«-Sprechchor über uns herein. Ich sah zu Boden und hoffte, es möge schnell vorbei sein.
Die Straßenbahngleise zu betreten kostete mich einige Überwindung. Die Bahnen waren stehengeblieben. Ein Fahrer hielt die Arme verschränkt und sah ausdruckslos auf mich herab.»Reiht euch ein« 280wurde skandiert. Die Leute in dem erleuchteten Wagen, die Stirn an der Scheibe, betrachteten uns wie Figuren in einem öden Film.»Reiht euch ein!«Sie werden das Lied kaum kennen — wir mußten es im Musikunterricht singen —, der Refrain heißt:»Drum links, zwei, drei, drum links, zwei, drei / Wo dein Platz, Genosse, ist / Reih dich ein in die Arbeitereinheitsfront, / Weil du auch ein Arbeiter bist!«Daher, aus diesem Lied, stammte ihr» Reiht euch ein!«. Ist das nicht abgeschmackt? 281
Dann der Kordon der Bereitschaftspolizisten. Ich habe Ihnen ja die Stelle gezeigt, wo sie die Straße abgeriegelt hatten. Instinktiv wich ich zum Rand aus. Mir schien es ein zu offensichtliches In-die-Falle-Gehen zu sein. Die Menge rückte auf, schob die vorderen Reihen praktisch dem Kordon in die Arme. Auf einen Schlag war wieder alles überschaubar geworden, wie auf dem Platz vor der Nikolaikirche, von dem sie uns erst gar nicht hätten herunterlassen dürfen. Nun würden sie ihren Fehler korrigieren.
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