Anzüglich fand Jörg die Bemerkung über die Redaktion deshalb, weil er sie auf unser Mobiliar bezog. Er hatte die beiden Kripomänner während der Stasibesetzung kennengelernt und für Stasileute gehalten. Alle dort hätten sich geduzt. Erst nach und nach sei ihm klargeworden, daß er sich mit Staatsanwalt und Kriminalpolizei herumstritt, und nur diejenigen, die nie etwas sagten, zur Stasi gehörten.»Das heißt«, berichtigte er sich,»offiziell dazugehörten. «Gerade der Kleine, die Eisenhand, habe ihm, Jörg, Aggressivität vorgeworfen. Jörg wollte sich nicht beruhigen.
Er steht unter Marions Fuchtel. Letzte Woche hat er mir verraten, daß er seit der Redaktionsbesichtigung mit Piatkowski versuche, einen Artikel über ihn zu schreiben. 264»Die Unerträglichkeit des Wahlsiegers «laute die Überschrift. Sobald er aber diese Überschrift vor sich sehe, sei er vollkommen vernagelt. Keinen Satz, keine Zeile, die er nicht sofort wieder gestrichen habe. Er fühle sich wie eine Fliege, die wieder und wieder gegen eine Scheibe knalle, und das ausgerechnet bei einem Artikel, der für ihn eine Frage der Selbstachtung sei, der Selbstachtung und der Unabhängigkeit.
Dann hätten wir dem Hauskauf nicht zustimmen dürfen, sagte ich. Ja, sagte Jörg, das sei nicht in Ordnung gewesen, und er habe dem auch nicht zugestimmt. Was das denn heißen solle, fragte ich. Das könne er auch nicht sagen, er mache mir keinen Vorwurf, und er habe sich ja selbst darüber gefreut, das habe ich ja gesehen, und auf den Baron wolle er sich auch nicht herausreden.»Aber es ist nicht recht, es ist nicht recht.«
«Die Leute haben Piatkowski gewählt«, sagte ich,»zumindest kann er das mit Recht von sich behaupten.«
Das wisse er selbst. Aber er ertrage es nicht, wenn jemand wie Piatkowski wieder oben schwimme, das entwerte doch alles! Diese Frage wolle er stellen, wenigstens das, eine Frage!
«Was sollen wir denn mit Leuten wie den Kripomännern machen? ›Stasi in den Tagebau‹ funktioniert nur im Sozialismus«, 265sagte ich, worauf Jörg nichts erwiderte. Ich half ihm beim Aufräumen.
Jörg ist voller Skrupel. Nach dem Erscheinen der Skandalnummer hatte er Angst, daß sich Meurer, der Schuldirektor, den er in seinem Lehrerartikel attackiert, etwas antut. Deshalb war Jörg jetzt froh, als er ihn auf der Straße sah. Meurer weiß ja nicht, wie Jörg aussieht. Vor Jörg haben sie hier in der Stadt richtig Angst. Auch ich profitiere von seinem Ruf.
Es war eine Überwindung, sich wieder auf den eigenen Platz zu setzen und weiterzumachen. Am liebsten hätte ich den katholischen Pfarrer gebeten — der war mit dem Baron gekommen, um uns einen Artikel über das Altenburger Handreliquiar» anzuvertrauen«—, Zimmer für Zimmer mit seinem Weihrauchfaß einer reinigenden Prozedur zu unterziehen. Ilona war unter den Trostworten des Pfarrers erneut in Tränen ausgebrochen. Von Stunde zu Stunde steigerte sie sich mehr in etwas hinein, wovon sie nicht einmal selbst hätte sagen können, was es eigentlich war. Frau Schorba hatte ihren Posten übernommen und sie nach hinten geschickt, wo ich Ilonas Geheul aus der Küche hörte. Astrid, der Wolf, lief aufgeregt schnüffelnd von Zimmer zu Zimmer, als verfolge er eine Spur. Ich fuhr Ilona nach Hause. In ihrer Küche tranken wir noch Kaffee. Sie erzählte mir unentwegt von sich, zum Beispiel, daß sie sich mit achtzehn, ein paar Monate nach ihrer Heirat, vor den Zug habe werfen wollen.
Als ich zurückkam, fragte Kurt, der sonst nie etwas sagt, ob es denn schön gewesen sei mit Ilona, wobei er mir, durchaus anerkennend, zunickte.
An Kurt sah ich sie zuerst, eine jener bombastischen Uhren, von denen der Baron einen ganzen Karton mitgebracht hat. In ihrer Originalversion sollen sie mehrere Hunderte, wenn nicht gar Tausende kosten, er aber bezieht sie für neun DM das Stück. Sie sind gedacht als Prämien für ein neues Abonnement: Wer das» Altenburger Wochenblatt «bis zum 1. Juli bestellt und die 45,90 Mark im voraus bezahlt, bekommt eine Uhr — solange der Vorrat reicht.
Es geht darum, uns ein kleines Polster anzulegen, damit wir über den Juli kommen. Wenn nur tausend Leute dieses Angebot annehmen, wären das immerhin 45 900 Mark, abzüglich der 9000 DM für die Uhren.
Bis zum Abend hat der Schlosser alle Türen wieder halbwegs in Ordnung gebracht. Wir haben auch gleich die Tür der Alten mitmachen lassen.
Sei umarmt, Dein Enrico
PS: Ich habe gestern zwei Stunden lang gerechnet und ein Papier verfaßt, meine zehn Thesen, die ich morgen verteilen werde. Wir müssen handeln. Wenn wir einfach nur so weitermachen wie bisher, sind wir erledigt. Marion — die mir vorwirft, eine Anzeige aus Südafrika angenommen zu haben 266— meinte, diese Klinkenputzerei um Anzeigen sei entwürdigend, ja menschenverachtend, insbesondere für Frauen. Das grenze schon an Prostitution. Gerade ich müsse doch die Diskrepanz spüren zwischen dem, was uns wichtig sei, weshalb wir überhaupt eine Zeitung machten, und dem, was ich da plane. Als ich schwieg, setzte sie nach, ob ich mir solche Hausierer in Sachen Reklame auf dem Theater oder in der Literatur anders denn als unglückliche Gestalten vorstellen könne. Ich weiß nicht, ob sie, als sie es aussprach, ihren Fehler bemerkte 267oder ob sie verstummte, weil Manuela 268in der Tür erschien, strahlend.
Liebe Nicoletta!
Ich hoffe sehr, daß meine Überlegungen zu den Nöten des Schreibens Sie nicht langweilen. Aber mein Wohl und Wehe hingen vom Schreiben ab. Wäre dieses ein Irrtum, so wäre ich selber einer.
Die Platitüde, beim Schreiben vergewissere man sich der Welt, erfüllte ich mit Leben. Mit anderen Worten: Solange es Blasphemiker gibt, braucht man sich um Gott keine Sorgen zu machen. In meinem Fall hieß das: Solange es mir gelang, reinen Herzens weiterzuwüten, mußte da draußen etwas existieren — Großwild, das Monströse, der real existierende Sozialismus, das andere, wie immer Sie es nennen wollen.
Sie sehen, wie dünn das Eis bereits war, auf dem ich mich bewegte. Alle Sicherheit reduzierte sich auf ein reines Herz . Sie können es auch Stilgefühl nennen oder Sinn für das Angemessene.
Michaela fand die Ausgeburten meiner Verzweiflung amüsant, nahm sie aber nicht sonderlich ernst und quälte mich weiter mit ihren Vorschlägen für das Paulini-Stück. Geronimo hat nie ein Wort darüber verloren. Vera hingegen schickte mir ein Glückwunschtelegramm. Sie glaubte, gerade die Preisgabe des Ichs werde mir zu einer solitären Stellung verhelfen. Ich hätte damit eine Abkürzung auf dem Weg zu Ruhm und Ewigkeit entdeckt. Ich fürchte, sie glaubt das weiterhin. Noch Anfang Januar hat sie mir versichert, daß ich ein» unsterbliches Spiel «besäße, meine Kunst, nur dafür lohne es sich, zu leben und zu leiden, auch sie habe schon seit langem ihr Leben darauf gesetzt, auf das Talent ihres Bruders. 269
Verzweiflung wechselte mit Euphorie. Heureka! jubelte ich, weil ich der Überzeugung war, meine Methode weiterentwickelt und radikalisiert zu haben. (Auf dem Klo bemerkte ich zu spät, daß Papier fehlte, und griff mir eine herumliegende Zeitung. Als ich die Toilette verließ, fehlte einer Kolumne der schräg abgerissene Schlußteil. Der Rest ergab durch seine kürzer werdenden, mit verstümmelten Worten endenden Zeilen ein abgewürgtes Gestammel, das ich ergreifend fand. Die vorletzte Zeile bestand nur aus einem» mu«, die letzte aus einem» t«. Diese zufällige Auflösung von Personen, Dingen und Ideen in der Sprache hätte ich bewußt niemals so überzeugend darzustellen vermocht. Da ich mich beim Abtippen an die Zeilenlänge der Kolumne hielt, zog ich am Ende ein Blatt aus der Maschine, auf dem ein Gedicht zu stehen schien.) Kaum aber hielt ich mein Produkt in der Hand, versank ich in Melancholie. Wohin sollte mich diese Reduktion führen?
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