«Er ist gerade entlassen worden«, sagte Geronimo. Mario verzog genauso wie früher die Lippen.
«Von wo entlassen worden?«
Mario lächelte vor sich hin.
«Von der Bereitschaftspolizei«, antwortete Geronimo für ihn. Sie hatten ihn am Vorabend einkassiert und erst vor zwei Stunden nach Hause geschickt.
«Das hat er von dort mitgebracht«, sagte Geronimo und deutete auf den Verband. Mario hob den Kopf. Ich fragte nach Franziska.
«Die ist nicht in Gefahr«, sagte Mario und lächelte wieder.
«Sie arbeitet für die Konferenz ›200 Jahre Französische Revolution‹ im Hygiene-Museum«, erklärte Geronimo. In dieser Situation verlasse immer nur einer von ihnen das Haus, der andere bleibe bei Gesine. Er wollte fortfahren, Mario aber hatte zu lesen begonnen, und zwar so laut, daß Geronimo aufstand und die Küchentür schloß.
Marios Bericht ist in Geronimos Buch 291nachzulesen, natürlich etwas anders, als ich ihn damals zu hören bekam. Im Vorwort beschreibt Geronimo, wie er Mario so zerschlagen, mit einem Verband um den Kopf, kaum wiedererkannt hatte. Mario habe ein Glas Wasser nach dem anderen getrunken, bevor er überhaupt fähig gewesen sei, ein Wort zu sagen. In diesem Moment, schreibt Geronimo, also bevor er von Mario irgend etwas erfahren habe, sei ihm zum ersten Mal der Gedanke gekommen, daß all das dokumentiert werden müsse. Danach ist viel die Rede vom Vergessen und Bewahren, von Schuld und Recht und Sühne und Vergebung. Außerdem gewinnt man den Eindruck, Mario sei zu ihm gekommen, weil Geronimo eben derjenige war, an den man sich in Not wandte, der Fels in der Brandung.
Bei der Beschreibung des Abends verschweigt Geronimo meinen Besuch. Ich habe damals tatsächlich kaum etwas gesagt. Aber wie Sie sehen werden, hätte es trotzdem nahegelegen, mich — wenn auch in einer Nebenrolle — zu erwähnen.
Was Mario vorlas, hörte sich anfangs an wie ein Unfallprotokoll, wie ein bereits amtlich gewordenes Papier, ein Beschwerdeschreiben an wen auch immer. Nach Datum, Uhrzeit (20.15) und der Angabe, sich zum Hauptbahnhof begeben zu haben, betont er,»in alkoholfreiem Zustand «gewesen zu sein, und zählt die» mitgeführten Gegenstände «auf: Personalausweis, Portemonnaie, Zigaretten, Streichhölzer, Haustürschlüssel, Taschentuch. Diese Bestandsaufnahme hat sich bis in die gedruckte Fassung erhalten. Dort heißt es:»Mein Ziel war, mich persönlich davon zu überzeugen, was an den Berichten von Freunden, Nachbarn und Kollegen der Wahrheit entspricht und was nicht. In der Nähe des Hauptbahnhofs und entlang der Prager Straße waren viele Tausende Menschen versammelt. Die Prager Straße und besonders das Terrain um das Rundkino waren durch Sicherheitskräfte abgeriegelt. Es waren mehrere Sperrzonen zu erkennen. Unmittelbar vor dem Rundkino war eine Hundestaffel postiert. Rowdyhafte Ausschreitungen konnte ich keine wahrnehmen. Soweit ich es überblicken konnte, setzten sich die Sicherheitskräfte aus Einheiten der Bereitschaftspolizei, Transportpolizei sowie der NVA zusammen. Vor dem Rundkino, auf der Höhe des Geschäftes für Musikinstrumente, waren Sprechchöre zu hören: ›Vater, schlag nicht! Bruder, schlag nicht!‹, ›Wir bleiben hier!‹, ›Ohne Gewalt!‹.«
Ich fragte, ob es nicht» Keine Gewalt!«heißen müsse, Mario aber beharrte auf» Ohne Gewalt!«. Was im Buch fehlt, ist sein Kommentar des» Wir bleiben hier!«. Er hatte es erklärungsbedürftig gefunden, diesen Ruf als Abgrenzung zu denen, die die DDR verlassen wollten, zu interpretieren, keinesfalls als Widerstand gegen die polizeiliche Aufforderung, die Straße zu räumen.
«Vor dem Exquisit-Bekleidungsgeschäft photographierte ein Passant den Absperriegel. Daraufhin stürzten 2 Uniformierte auf ihn zu; der Passant unternahm einen Fluchtversuch, schien aber bald zu resignieren, so daß er gegriffen wurde. Sehr grob führte man ihn hinter den Sperriegel, der Photoapparat wurde ihm entrissen. Dies alles geschah im Laufschritt. Die Sicherheitskräfte rückten weiter vor und räumten so die Prager Straße. Wer nicht schnell genug vor ihnen herlief, wurde schonungslos einkassiert. Zu Beginn einer jeden Phase des weiteren Vorrückens schlugen die Uniformierten mit ihren Gummiknüppeln im Takt auf ihre Schutzschilde, erst langsam, dann immer schneller, bis sie losliefen. Das steigerte sichtlich die Angst und das Entsetzen der Flüchtenden.«
Die Passage über das Geräusch der Schlagstöcke habe ich wesentlich länger in Erinnerung. Es gab auch Vergleiche. Bei einem verwechselte Mario römische Legionäre mit Gladiatoren. Sobald er schwieg, zog er wieder seine vorgestülpten Lippen zur Seite.
«So etwa gegen 22.30 Uhr formierten sich auf der Straße vor dem Hauptbahnhof, Höhe Busbahnhof, Armee-Einheiten. Sie henkelten sich fest in den Armen ein und verteilten sich auf die gesamte Straßenbreite. Hintereinander waren es ungefähr 10 bis 15 Reihen. Schnellen Schrittes und begleitet durch gemeinsames, lautstarkes ›Links, 2, 3, 4‹, begannen sie die Straße entlangzumarschieren, Richtung Zeitkino. Zu diesem Zeitpunkt befand sich jedoch nur ein geringer Teil der Bürger vor dem Hauptbahnhof, es war eher ein Zustand der relativen Ruhe an diesem Punkt zu verzeichnen, denn die Sprechchöre kamen aus Richtung Leningrader Straße.«
Etwa an dieser Stelle geschah etwas, was ich nicht im mindesten erwartet hatte. Mit einem Lächeln schob Mario die Blätter über den Tisch zu Geronimo. Nun sah ich, was mir längst hätte auffallen müssen: Es war Geronimos Schrift, nicht jene, um die ich Mario immer beneidet hatte wegen ihres gleichmäßigen Flusses, die wie eine Gravur die Seiten füllte.
Mario lehnte sich auf dem Sofa zurück. Geronimo schob sich die Blätter zurecht.
«Als Zeugen für die Richtigkeit meiner Aussagen«, diktierte Mario,»kann ich meinen ehemaligen Klassenkameraden Johann Ziehlke nennen, den ich zufällig auf der Prager Straße getroffen hatte. Hast du was dagegen?«Geronimo schüttelte den Kopf, während er schrieb. Mario breitete die Arme auf der Sofalehne aus, den Kopf an die Wand gelehnt, und fuhr mit zur Decke gerichtetem Blick fort zu diktieren. Auch diese Passage habe ich anders in Erinnerung und glaube, die Lücke darin zu erkennen.
«Trotzdem setzten diese Uniformierten ihren Marsch unbeirrt fort und räumten ohne erkennbare Notwendigkeit die Straße (einschließlich Kreuzung) vor dem Hauptbahnhof. Dahinter fuhr ein Armeefahrzeug des Typs Ural. Aus diesem kamen qualmende Gegenstände auf die Menschen geflogen. Ich merkte schnell, daß es sich um Reizgas handelte. Ich konnte ca. 10 Minuten lang nicht mehr richtig sehen, die Augen brannten sehr, die Schleimhäute waren angegriffen! Das alles, obwohl ich mein Taschentuch sofort als Gesichtsschutz benutzte. In diesem Augenblick wurde mir bewußt, daß ich schon bei meinem Eintreffen an diesem Abend umgehängte Schutzmaskentaschen an den Uniformierten bemerkt, diesem Fakt aber bis dahin keine größere Beachtung geschenkt hatte. Einige Zeit später rückten die Uniformierten von der Prager Straße her weiter vor. Dabei umzingelten sie auch die große Rasenfläche gegenüber dem Busbahnhof. Zu dieser Fläche hatte ich mich nämlich zuvor begeben, weil sich dort nur vereinzelt und sehr verstreut Bürger aufgehalten hatten.«
Haben Sie es bemerkt? In den Minuten, als Mario nichts oder kaum etwas sehen konnte, bleibt die Szene leer. Aber so ist es nicht gewesen. Zudem verlor sich gerade mit dieser Stelle sein halbamtlicher Tonfall. Er und Geronimo hatten sich untergehakt, weil sie fürchteten, sonst» abgesammelt zu werden wie Marienkäfer mit verklebten Flügeln«. Es gab zwei, drei humorig groteske Sätze, in denen er beschrieb, wie sie beide blind umhergelaufen waren, von betrunkenen Hühnern war die Rede und dem Gestank von fauligen Eiern. Plötzlich war ihm Geronimos Arm entglitten, er hatte nach ihm getastet, ihn gerufen und schließlich geglaubt, sie seien aus der Tränengaswolke raus und in Sicherheit. Schließlich war er in der Annahme, Geronimo sei zurückgeblieben, umgekehrt, um ihn zu suchen.
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