Braucht es nicht Courage, eine Front von zehn Kellnern abzuschreiten, von denen jeder mit dem liebenswürdigsten Lächeln» Bonsoir, Madame! Bonsoir, Monsieur!«sagt? Ist es nicht Mut, wenn man sich blind und ohne nach dem Stuhl zu tasten, nach hinten fallen läßt, ganz der Geschicklichkeit des Kellners vertrauend? Und was ist Tapferkeit, wenn nicht das gleichmütige Lächeln angesichts einer solchen Speisekarte? Wobei ich einräume, Vera, in deren Karte die Preise fehlten, vor dem iranischen Kaviar gewarnt zu haben. Für eine Vorspeise mehr als tausend Franc zu zahlen, hätte ich zu diesem Zeitpunkt nicht übers Herz gebracht. Dagegen verleugnete ich heroisch meinen Bierdurst und verlangte die Weinkarte. Während ich nach einem Rotwein unter 400 Franc suchte, entdeckte Vera in dem Hocker, der zwischen uns an die Tischecke gestellt worden war, die ideale Ablage für ihre Handtasche.
Unsere Neugier irritierte die hochempfindlichen Wahrnehmungssysteme der Kellner. Schon ein flüchtiger Blick oder eine unbedachte Geste reichten, sie herbeispringen zu lassen, natürlich völlig umsonst, denn die Gläser waren gut gefüllt, der Aschenbecher leer, Rosinen- und Olivenbrot ausreichend vorhanden, und die Krümel hatten sie gerade erst vom Tischtuch gebürstet.
Gibt es nicht eine Meditationsart, bei der die Abfolge erlesenster Speisen die Seele reinigt? Reiche Leute leben gesund, sagte Vera.
Zu diesem Zeitpunkt glaubte ich, dem Baron ein Schnippchen schlagen und ihn betrügen zu können. Denn jene tausendachthundert Franc, die ich bereitwillig aufs Silbertablett legte, waren uns nicht mehr zu nehmen, weder von ihm noch vom Casino.
Wie naiv von mir! Als gäbe es irgendeine Regung, irgendeinen Gedanken, die nicht zum Kalkül des Barons gehörten. Je zahlreicher und widersprüchlicher meine Reaktionen ausfielen, desto größer der Erfolg seiner Lehrstunden. Wahrscheinlich würde mich Barrista, hielte er diesen Brief in Händen, zuerst kritisch darauf hinweisen, daß ich bereits dreimal Preise erwähnt habe.
Leider patzten Vera und ich zum Schluß: Hatte schon meine Barzahlung befremdet, gestaltete sich unser Aufbruch derart abrupt, daß die Leibkellner, die uns die Stühle hatten zurückschieben wollen, enttäuscht und vorwurfsvoll die Hände hoben.
Im Casino standen wir schnell vor dem ersten Roulettetisch. Am liebsten hätte ich mich gleich an die Arbeit gemacht, besaß aber noch keine Jetons. Ich fragte Vera, welche Zahl sie als nächste erwarte, und tippte selbst auf» achtzehn«. Es gab keinen Grund, die Achtzehn zu nennen. Meine Favoriten sind andere Zahlen.»Achtzehn«, wiederholte ich — und verstand nicht, was der Croupier auf französisch verkündete. Vera sah mich erschrocken an. Achtzehn!
Wie aber sollte ich dieses Orakel deuten:»Das ist dein Tag!«oder» Das war deine Chance!«?
An der Kasse wechselte ich statt der für heute geplanten sechstausend Franc nur fünftausendfünfhundert — und lächelte über meinen Kleinmut.
Ein Aufseher am Eingang zu den hinteren Sälen ließ uns zögern. Wir zeigten unsere goldenen Hotelkärtchen, warteten seine Verbeugung ab und überschritten die unsichtbare Grenze zum» Salon privé«.
Am Tisch 7 waren zwei Stühle frei. Die Anzeigetafel verhieß eine überdurchschnittliche Mischung. Man mußte nur ein bißchen Konsequenz aufbringen, um zu gewinnen. Direkt vor uns das rote Feld.
Ich ließ die ersten Runden aus, um ein Gefühl fürs Spiel zu bekommen. Dann setzte ich hundert auf das untere Drittel 235— es war viermal nicht erschienen. Ich verlor und verdoppelte den Einsatz. Vielleicht sind die perlmuttgrünen Hunderter die schönsten Jetons. Ich verlor und verdoppelte auf vierhundert. Die anderen am Tisch, alles ältere Herren, setzten auf Zahlen. Ich gewann. Ein rosafarbener Fünfhunderter, eine Zweihunderter-Orange und ein grüner Hunderter kamen zu meinem Einsatz hinzu; ein Gewinn von fünfhundert Franc nach drei Spielen.»Es funktioniert«, flüsterte ich.
Vera setzte auf Drittel, auf Reihe, auf Rot, auf Ungerade. Nicht immer behielt sie den Überblick, die Fünfzehn und die Sieben kamen zweimal. Die Drittel wechselten einander beinah regelmäßig ab.
Plötzlich wollte Vera gehen, zwanzig Prozent Gewinn seien mehr als genug. Ich sagte, daß ich überhaupt keine Linie, kein System entwickeln könne, wenn sie so viel und planlos setze. Vielleicht, mutmaßte sie, bestehe ja meine eigentliche Aufgabe darin, eigene Regeln zu finden. Ich habe es versprochen, sagte ich gereizt. Danach verlor ich viermal in Folge.
Beim Anblick unserer Barschaft versagte mir die Courage. Statt auf tausendsechshundert zu verdoppeln, wagte ich nur tausend — und verlor. Ich setzte tausendfünfhundert. Das war bereits meine letzte Chance. So schnell ging das also.
Vera stand auf. Wir verabschiedeten uns, während die Kugel im Kessel kreiste. Ich sah Vera nach, sie drehte sich um, ich winkte, hörte die Kugel springen, schließlich das letzte» Klack«— die Ansage war mehrsilbig. Ich erinnere mich nur, daß es das richtige Drittel war — Sieg! Sieg! Ich war wieder im Rennen.
Von da an spielte ich selbstvergessen wie ein Kind mit meinen Hunderter-Äpfeln, froh, endlich tun und lassen zu können, was ich wollte. Der Erfolg gab mir recht. Mein Gewinn wuchs beständig und immer auf dieselbe Art: Sobald ein Drittel viermal nicht erschienen war, stieg ich ein: hundert, zweihundert, vierhundert — spätestens bei achthundert gewann ich.
Mir war es egal, wenn andere auf dasselbe Drittel wie ich spekulierten. Nur wenn ihr Betrag über meinem lag, fürchtete ich, ihr fremdes Gravitationsfeld könnte mein Glück stören.
Fortwährend wurden Geldscheine in Jetons getauscht. Wer den Tisch verließ, verließ ihn mit nichts. Ich hingegen hatte das Gefühl, gut zu arbeiten.
Der einzige Mitspieler, den ich bewunderte, trug weder Krawatte noch Fliege, dafür kaute er an einem Zigarillostummel. Ich weiß nicht, wie hoch sein Einsatz gewesen war. Nach einer halben Stunde jedoch lagen zwei große weiße Zehntausender vor ihm, die Lipizzaner unter den Jetons. Wie gern hätte ich ihm anerkennend zugenickt, sein Blick aber haftete unausgesetzt auf dem grünen Filz.
Sein Gegenbild war ein sommersprossiger unrasierter Herr, der an der Ecke saß und jede Zahl in ein kariertes Heft schrieb, wobei er den Kopf schief hielt wie ein Grundschüler. Er rechnete und rechnete und sah nur auf, wenn er einen seiner minimalen Einsätze wagte, die prompt verlorengingen.
Eifriger als ich arbeitete nur ein zierlicher Franzose, der gleichzeitig an zwei Tischen spielte und offensichtlich meinen Dritteln vertraute. Unser Schicksal hing am selben Faden — für ihn jedoch kein Grund, mein Lächeln zu erwidern. Ich begriff sehr schnell, wie allein man selbst im Erfolg bleibt.
Zweimal wurde ich übermütig und verlor auf Rot vier Fünfziger-Zitronen, dasselbe mit einer Zweihunderter-Orange auf Passe. Schrieb ich schon, daß ich mich in jeder Runde mit einem perlmuttroten Zwanziger gegen die Null versicherte? Die Null allerdings kam den ganzen Abend nicht. (Das Zimmermädchen weiß nicht, ob es mich vom Balkon jagen soll oder nicht. Es hat die Tür geöffnet, damit ich den Staubsauger höre.)
Dem Vorbild des Zigarillo-Mannes folgend, verteilte ich mal Zitronen, mal Äpfel an die Croupiers. Kurz vor eins machte ich Kassensturz: Ich hatte zehntausend Franc in der Tasche, also einen Gewinn von viertausendfünfhundert, dazu einen bunt zusammengewürfelten Rest von tausendzweihundert, der mir plötzlich nichts mehr bedeutete. Ich setzte auf Rot — und gewann. Die Äpfel und Zitronen ließ ich liegen, steckte den Perlmutt-Bleu-Tausender ein und sämtliche Orangen.
Ich hatte bereits mein Bon soir geflüstert und mich auf den Weg zur Kasse gemacht, als ich am Nebentisch die Dekolletés zweier Frauen bemerkte und meinen Kurs änderte.
Ich beugte mich über die beiden Damen — und setzte sämtliche Orangen auf Rot. Augenblicke später sah ich zum zweiten Mal auf die Damen herab und raffte den Gewinn zusammen.
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