Das Klatschen waren Ohrfeigen. Eine Steigerung lag in der Natur der Sache. Füße wegschlagen war kindisch. Traf man die Ferse richtig, lag der andere flach. Aber der Spitzel konnte nicht hinfallen, er war festgebunden. Ohrfeigen taten weh.
«Stopf ihm den Dreck rein!«
«Würg’s runter, Spitzel.«
«Schwanzparade! Schwanzparade!«
Wenn der Spitzel den Mund nicht aufmachte, versuchten sie es mit Ohrfeigen. Mehnert wollte das Blatt zerreißen, dreimal, nicht zu klein und nicht zu groß, der Spitzel sollte ein bißchen kauen müssen.
Edgar hatte das Blatt mit den schiefen Zeilen und dem Krickelkrakel selbst in der Hand gehabt. Mehnert hatte es jedem gegeben, der es hatte sehen wollen. Aber wer es lesen wollte, mußte dann auch mitmachen, so eindeutig war das, eineindeutig, hatte Bär gesagt. Edgar versuchte sich vorzustellen, wie es aussieht, wenn man jemandem Papier in den Mund stopft. Zusammengeknüllt oder in übereinandergelegten Schnipseln wie ein Stück Baumkuchen. Beim Zukleben eines Kuverts hatte sich Edgar einmal in die Zunge geschnitten. Aber wie zwang man ihn zum Kauen und Schlucken? Und wenn er alles ausspuckte? Wer sammelte die feuchten Schnipsel wieder ein? Ginge es dann von vorn los? Sie johlten so laut, als gäbe es im ganzen Regiment keinen Offizier mehr.
Edgar schob die Bohnerkeule hinter der Meute entlang. Als er wieder Platz hatte, fand er nur langsam zu seinem Rhythmus zurück.
Edgar hörte auf zu summen, als er merkte, daß es die Melodie von» Ich möchte ein Eisbär sein «war. Das Lied mochte er genausowenig wie den Spruch von Pitt. Aber eine andere Melodie fiel ihm in dem Lärm nicht ein. Edgar bewegte sich viel zu schnell, als liefe er vor dem Gejohle davon. Aber er wollte nicht davonlaufen. Er hatte keine Angst. Er kannte den Plan und auch das Lachen von Mehnert, bei dem der Mund die Rundung des Kinns wiederholte, ein clownhaftes Lachen. Vielleicht würde Mehnert so lachen, wenn er dem Spitzel das Koppel abgenommen und die Hose heruntergezogen hatte, stolz, weil sein Plan kein leeres Versprechen gewesen war. Bei der Uniformhose reichte es, sie aufzuhaken und die Hosenträger zu lösen, die lange Unterhose jedoch würde er selbst anfassen und herunterziehen müssen. Oder rieben Mehnert und Bär den Hintern des Spitzels bereits mit Schuhcreme ein? Nein, Mehnert würde sich schonen, das war niedere Arbeit, da würde er einen anderen ranlassen, einen, der die Leute zum Lachen brachte. Der Spitzel würde nicht lachen, selbst wenn es kitzelte. Wer weiß schon, wie sich Schuhbürsten auf dem nackten Hintern anfühlen und ob man sich daran gewöhnt und ob der Spitzel die Backen reflexhaft zusammenkneift oder nicht. Und wenn er doch lachte? Das würde er bereuen. Oder heulen. Was macht man mit einem heulenden Spitzel? Er würde nicht heulen. Der Spitzel hielt den Blick gesenkt oder richtete ihn zur Decke. Und wenn er die Leute ansah, ihnen in die Augen sah? Aber wozu? Um sich die Namen zu merken? Rache zu schwören? Dafür war die Sache zu eindeutig. Wenn es je einen Beweis gegeben hat, dann in diesem Fall. Der Spitzel erhielt eine gerechte Strafe, eine Lektion. Edgar wunderte sich nur, wieviel Mehnert riskierte, daß er sich das traute. Mut hatte Mehnert, er war der Rädelsführer, er würde als erster verurteilt.
Wo der Flur in das Treppenhaus überging, ließ Edgar der Bohnerkeule mehr Auslauf. Er spürte tatsächlich seine Bauchmuskeln. Der GUvD stand von dem Tisch auf, als wollte er Edgar Platz machen, und ging zur Meute.
Warum hatte der Spitzel nicht nach den Unteroffizieren gerufen? Zwei hatten zugesehen, Detchens und Freising, der schöne Spanier. Jemand hatte ihnen sogar einen Hocker gebracht. Aber selbst wenn sie etwas sagen würden, wenn sie den Befehl zum Aufhören geben würden, hätte das keine Folgen. Es schadete nur ihrer Autorität. Und wenn der Spitzel sie anflehte, ihn zu befreien? Er sollte es versuchen, einfach nur:»Genosse Unteroffizier, helfen Sie mir!«Dann säßen Freising und Detchens in der Klemme.
«Mehnert malt ihm den Schwanz an«, sagte der GUvD und ging an Edgar vorbei Richtung Toilette.
Sie waren jetzt richtig in Fahrt. Mehnert tippte mit der Bürste von unten gegen die Schwanzspitze. Wie ein Dompteur würde Mehnert den Spitzelschwanz zum Stehen bringen. Und alle wollten sehen, wie es bei einem anderen aussah, wenn er hochging, weil sie immer nur den eigenen Schwanz in der Hand hatten. Edgar zwang sich, an Fußball, an Schule, an Wandertage zu denken.»Ich möchte ein Eisbär sein, am kalten Polar, dann müßte ich nicht mehr schrein, alles wär so klar …«Mehnert in der Rolle seines Lebens. Der Schwanz des Spitzels würde sich über den rechten Winkel hinaus aufrichten, wie ein obszöner Gruß. Mehnert wollte dem Spitzel das Koppel über den Steifen hängen und zählen lassen, wie lange er’s hielt, Zählen wie beim Boxkampf. Dann käme das Photo an die Reihe, die Frau, die der Spitzel als seine Freundin ausgegeben hatte, die ihm aber nie schrieb. Das hatte der Spitzel nicht bedacht. Briefe, sagte Mehnert, kriegt er nur von Muttern und von einem Kerl.
Vielleicht wäre es das beste, wenn der Spitzel einfach losheulte oder sich wehrte, aber richtig, schreien und spucken, was halt noch ging. Die Meute zog sich plötzlich zusammen, es wurde still, dann wieder Pfiffe, Applaus.
Edgar ließ die Bohnerkeule zwischen der Tür des Polit und der Toilette hin- und hergehen. Gleich mußte er wenden. Mehnert wollte» den Spitzel melken«. Aber vielleicht war der Spitzel so eingeschüchtert, daß sein Schwanz nichts hergab, egal was Mehnert anstellte, ob mit Handschuhen oder ohne.
Edgar versuchte an etwas anderes zu denken. Aber nicht an zu Hause.
Eigentlich waren Teichmann und Bär schuld. Wären die bereit gewesen, dem Spitzel eine zu verpassen — denn jemand, der sich auf dem Boden krümmt, hätten sie nicht ans Bett gebunden und geschwärzt und gemolken.
Edgar machte kehrt und sah die Meute vor sich. Das ist unsere Weihnachtsfeier, dachte er, und im selben Augenblick, da er die Meute sah und Weihnachtsfeier dachte, wußte Edgar, daß er von nun an zu Weihnachten immer an diese Weihnachtsfeier würde denken müssen. Es war wie ein Urteil, als er begriff, daß er nie wieder ohne die Meute, ohne Mehnert, ohne Pitt, ohne Bär und Teichmann, ohne Spitzel und den Plan, Weihnachten feiern würde. Der Plan hatte sich ihm auf immer eingeprägt, Schritt für Schritt, Wort für Wort, er hatte zu oft daran gedacht. Der Plan bliebe bei ihm wie dieses Eisbär-Lied und wie Pitts Spruch über die Bauchmuskeln. So wie er auch diesen Moment, da er das alles verstand, nie mehr vergessen würde, obwohl er gar nicht mitmachte, obwohl er nicht einmal zusah. Er hörte nur dieses gleichmäßige Johlen und Lachen. Sollte er sich noch die Ohren zuhalten? Er konnte gar nicht mehr anders, als sich das alles einzuprägen.
Er wollte etwas anderes tun, um auf andere Gedanken zu kommen. Aber er konnte jetzt nicht aufhören, was sonst sollte er tun? Es war vollkommen unmöglich, jetzt aufzuhören.
Zuerst merkte er gar nicht, wie ihm die Stiefel in den Weg der Bohnerkeule gerieten. Dann aber flohen sie wie eine Herde, Hausschuhe, Turnschuhe, Strümpfe, Stiefel, sie sprangen und hüpften vor der Bohnerkeule, und die, die nicht sprangen und hüpften, traf die Bohnerkeule. Es war wie ein Kinderspiel, wie Abschlagen. Je schneller er war, desto mehr wurden getroffen. Eene, meene Muh, und raus bist du! Ich möchte ein Eisbär sein. Er ließ der Bohnerkeule freien Lauf. Raus bist du noch lange nicht, am kalten Polar.
Er hörte die Schreie, aber die waren Teil des Spiels. Auch daß man ihn schlug und niederriß, gehörte dazu. So sind nun mal Kinder. Wenn sie verlieren, werfen sie alles um. Aber er mußte weitermachen. Gerade hier, wo die Meute gestanden hatte, gab es viel zu tun, denn hier waren die Sohlenabdrücke zahllos und ergaben ungewohnte und komplizierte Muster.
Читать дальше