Und wie ich mich mit Bleiben bestrafte und Michaela Deine Schuhe trug und wie die Weltgeschichte uns überrumpelte und Du Dich verstecktest und ich darüber fast den Verstand verlor, weil ich nicht wußte, wie es weitergehen sollte. Und ich plötzlich begriff, daß ich kein Geld hatte, zum ersten Mal machte es mir etwas aus, keine Kröten, keinen Zaster, keine Moneten, kein Moos, keine Kohle, keine Knete, kein Heu zu haben. 353Sonst wäre ich Dir nach Beirut gefolgt und hätte Dich nach Rom oder New York oder Altenburg entführt. Ach, Verotschka, bis in den Orient bist Du vor mir geflohen und hast mich brav ermutigt, weiterzuschreiben und fremde Frauen zu lieben, so wie man Jungen rät, sich viel zu bewegen und kalt zu duschen. Dabei wollte ich doch nichts anderes als Dich! Mit Dir will ich leben, Verotschka, nur mit Dir kann ein neues Leben beginnen.
Hier gibt es nichts mehr aufzuräumen. Der Geruch der frischen Farbe mischt sich mit dem der neuen Matratze. Die Bilder hängen, hier haben sie Platz und sehen viel schöner aus. Das schönste aber ist, daß wir alles, was wir sonst noch brauchen und wünschen, gemeinsam kaufen werden. Während Du das liest, werde ich neben Dir liegen und Deinen Rücken streicheln und die schönsten Schulterblätter der Welt küssen!
Verotschka, keine sechzehn Stunden mehr.
Liebe Nicoletta! 354
In der Leere werden Worte überflüssig. Heute, da mir die lebendige Empfindung für jenen Zustand abhanden gekommen ist, erscheine ich mir selbst wie ein zufälliger Zeuge, der unsicher und widersprüchlich auf Nachfragen antwortet.
Beinah täglich hatte ich mein Krankenlager zu verteidigen. Einmal standen Irene und Ramona, meine Kolleginnen aus der Dramaturgie, vor der Tür. Sie schienen enttäuscht, alles so vorzufinden, wie es ihnen Michaela geschildert hatte. Sie war ihnen voran hereinmarschiert, hatte das Fenster aufgerissen und eine Decke über den Schlafsack geworfen, als würde es mir sonst zu kalt werden. Später beklagte sie sich über mein Aussehen und das Chaos im Zimmer. Michaela hielt mir vor, die beiden in eine peinliche Lage gebracht zu haben! Das mag so gewesen sein, doch meine Pein war ungleich größer. Der Schweiß brach mir aus, als ich Irene mit dem Blumentopf aus der Dramaturgie erblickte. Er habe sich prächtig gemacht und sollte mir als Beispiel dienen. Ich hielt das für eine Anspielung, einen diskreten Hinweis auf die Patronen im Topf. 355Als Michaela das Zimmer verließ, erwartete ich, zur Rede gestellt zu werden. Sollte ich leugnen? Sollte ich sie ins Vertrauen ziehen? Doch nichts geschah, und bald verabschiedeten sie sich.
Als ich gerade die Blumenerde untersuchen wollte, kam Ramona zurück. Ob ich ihr nicht etwas anvertrauen wolle, etwas, was mir auf der Seele laste und mich quäle. Dabei sah sie mich an, als wollte sie mit mir beten. Ich schwieg und blickte direkt in ihre Nasenlöcher, das linke war schmal in der Form eines Bumerangs, das andere ein kreisrunder Krater. Ramona schniefte und ging.
Die Patronen fanden sich vollzählig im Blumentopf, und nichts deutete auf eine Entdeckung hin.
Kurz vor Weihnachten erhandelte ich mir zwei weitere Wochen Krankschreibung. Ich mußte versprechen, im neuen Jahr, sollte keine Besserung eintreten, einen Psychiater oder Neurologen aufzusuchen. Dr. Weiß empfahl mir Spaziergänge, überhaupt Bewegung und frische Luft. Er ahnte nicht, wie sehr mich seine Bemerkung, nun würden ja die Tage wieder länger, bestürzte. Schon immer habe ich mich über Regen mehr gefreut als über blauen Himmel. Doch die Vorstellung von hellen warmen Abenden, von Vogelgezwitscher und Badegeschrei, überhaupt der Gedanke an Ostern und große Ferien, war mir unerträglich.
Dann Weihnachten. Natürlich hatte ich keine Geschenke. Außerdem weigerte ich mich, wieder bei Michaela zu schlafen, um ihrer oder meiner Mutter mein Zimmer zu überlassen.
Mutter, die in Dresden keine Demonstration versäumt hatte und, einem Aufruf im Radio folgend, sogar in die Bautzner Straße gefahren war, um die Staatssicherheit zu besetzen, bewunderte Michaela. Michaela war wirklich Schauspielerin geworden. Michaela spielte Hauptrollen! Michaela zog ihren Jungen allein groß, und überhaupt war Michaela außerordentlich. Zum Beweis reichte Mutter mir die ersten beiden Ausgaben des» klartext«, die unter Michaelas Leitung entstanden waren und von denen ich keine Ahnung hatte, obwohl die Treffen der» Mediengruppe «sozusagen vor meiner Zimmertür stattgefunden hatten. Zweitausend Exemplare waren sie innerhalb von Stunden losgeworden. Mutter bestand darauf, mir zumindest den Artikel über die Ratsbibliothek vorzulesen, die von Schalck-Golodkowskis Leuten in den Westen verscherbelt worden war. Ich dagegen hatte es nicht mal fertiggebracht, die Türchen an Mutters Adventskalender zu öffnen.
Robert hatte sich als einziger mit meinem Zustand abgefunden. Er fragte nicht mehr, was ich denn hätte, und genoß es, mir in jeder Hinsicht überlegen zu sein.
In der Silvesternacht sah ich Robert und Michaela dabei zu, wie sie ihre drei Raketen abfeuerten, applaudierte und verzog mich kurz nach Mitternacht in meinen Schlafsack, wo ich das Zischen und Knallen nachgeahmt haben soll. Später übergab ich mich. Als es dämmerte, hockte ich auf dem Klo und starrte hinaus. Das Morgengrauen entsprach genau meiner Vorstellung von Zukunft. Ein komplettes Jahr mit all seinen Tagen erwartete mich, mich, dessen Kräfte nicht mal für die ersten Stunden reichten.
Ich ahnte, daß es einer Tat bedurfte, um mich vor dem Untergang zu retten. Mehr als einmal hatte ich bereits mit der rechten Hand meine Stirn berührt, um ein Kreuz zu schlagen.
Was hielt mich davon ab? Trotz? Selbstachtung? Stolz? War nicht gerade Gott mein Problem, seine Ewigkeit? Gibt es denn etwas, was dem Leben feindlicher gesonnen ist als die Unsterblichkeit, die Unsterblichkeit der Heiligen wie die der Künstler? Künstler wie Heilige sind Egomanen. Einer, der sich wirklich opferte, der anstelle eines anderen in die Hölle ginge, das wäre ein Heiliger! Judas ist der einzige, dessen Legende vielleicht einen solchen Schluß zuläßt.
Hätte ich beichten sollen? Ich wollte keine Worte mehr, kein Gerede, keine Verheißung! Ich hatte die Andacht der Worte satt, ihre vermessene Überheblichkeit noch in der unterwürfigsten Geste ekelte mich an. Nur kein Gebet mehr, kein Bekenntnis! 356Nein, etwas ganz anderes mußte es sein, etwas, was so unerwartet wie naheliegend war, etwas, was ich noch nie getan, woran ich noch nie gedacht hatte, eben etwas anderes.
In der Nacht vom ersten auf den zweiten Januar, ich hatte wie immer sehr früh das Licht ausgemacht, erwachte ich kurz nach zehn. Ich öffnete das Fenster, kein Schnee, kein Regen. Ich erwartete von mir nichts weiter, als die Decke wieder über die Schultern zu ziehen und weiterzuschlafen. Im nächsten Moment aber sah ich mich neben dem Bett stehen und in meine Hose steigen. Ich lachte über mich, etwas in mir lachte über mich selbst. Trotzdem zog ich mich weiter an, pulte die Munition aus der Erde, lud das Magazin und steckte die Pistole in den Gürtel. 357Aus dem Schrank nahm ich zwei Pullover und meine alten Wanderschuhe. Die Pullover zog ich übereinander, die Schuhe schnürte ich bis zu den obersten Ösen zu. Dann stieg ich aufs Fensterbrett. Meine Augen waren an das Dunkel gewöhnt, ich sah den Rasen, sprang — und kam mit beiden Füßen gleichzeitig auf. Kein Schmerz, keine Steifheit, der Sprung war getan.
Ich marschierte durch Nord, über den Lerchenberg und durch die Stadt, ohne jemandem zu begegnen. Entfernt huschten ein paar Gestalten dahin, ansonsten nur Autos. Dann passierte ich den Großen Teich, bog an einer Kfz-Werkstatt halb links hinauf und hatte die Häuser bald hinter mir. 358Ein paar Schneeinseln schimmerten aus dem Schwarz der Felder hervor. Als die Straße abfiel, sah ich nur wenige und weit entfernte Lichter. Entweder gab es hier keine Straßenbeleuchtung mehr, oder sie war bereits ausgeschaltet. Hin und wieder fuhr ein Auto vorbei, der Dreck spritzte gegen meine Hose. Ein Auto, das mir im letzten Moment ausgewichen war, hielt, setzte zurück.»Bist du lebensmüde?«brüllte der Fahrer. War ich lebensmüde? Hätte ich gewollt — ich hätte mir eine Kugel durch den Kopf jagen können, ein Luxus, der mich erschreckte.
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