Das Programm entspricht ganz seinen Vorlieben, jedoch hat niemand geahnt, daß ihn (»Nennen Sie mich einfach Erbprinz«) eine Dreiraum-Neubauwohnung in Nord mehr interessiert als das Schloß. Die Stadt hat er 1935 das letzte Mal gesehen. Nur den Baron behandelt er vergleichsweise herablassend. Dessen Einflüsterungen und Erläuterungen beantwortet er kaum mit einem Nicken. Häufig unterbricht er ihn, indem er sich vorbeugt, die Hand ausstreckt und jemanden in seiner Nähe in freundlichster Weise anspricht.
Andy, Massimo und der Baron wechseln sich darin ab, seinen Rollstuhl zu schieben, Olimpia (Andys Frau), Michaela und Vera sind sein Hofstaat, doch auch Mutter, Cornelia und ich gehören zu seinem Gefolge — und natürlich Robert.
Niemand spricht es aus, doch ich glaube, der Erbprinz ist schwul, jedenfalls hat er nie geheiratet, ist kinderlos und scheint überhaupt zu filigran für ein Familienleben.
Eigentlich wollte der Baron ihn auf unseren Coup vorbereiten, aber auch mir schien es dann besser, den Erbprinzen selbst ins Vertrauen zu ziehen. Unser Dilemma ist, daß wir am Freitag abend die Zeitung abliefern müssen, wenn wir sie am Sonnabend spät haben wollen, um sie am Sonntag in aller Frühe zu verteilen. Unsere Berichte kämen sonst eine Woche zu spät, und andere würden die Früchte unserer Arbeit ernten. Also haben wir über den Sonnabend, vor allem über den großen Empfang am Nachmittag und über die Inthronisierung der Madonna im Museum bereits im voraus geschrieben.
Der Erbprinz lächelte fast schelmisch, bat darum, den Artikel über die nahe Zukunft lesen zu dürfen, damit er seinen Teil für die Verwirklichung unserer Prophezeiung leisten könne. Er bemerkte sehr wohl, wie mir seine Formulierungen einheizten, aber mit den liebenswürdigsten Worten — er werde gern alles tun, was uns helfe und nütze, er stehe ohnehin in unserer Schuld — beruhigte er mich wieder. Aus Dankbarkeit hätte ich ihm am liebsten seine schönen Hände geküßt.
Wir fuhren ihn dann aufs Schloß, um ihn, zur selben Uhrzeit, zu der morgen der Empfang beginnt, inmitten der Menge zu photographieren — inmitten von Barristas Heerscharen, inklusive Proharsky und Recklewitz-Münzner samt Familien. Dazu die Zeitungsredaktion ohne Marion und Pringel, aber mit Jörg, der schlecht aussieht, und Georgs Familie. (Franka in einem todschicken Kleid — einem Geschenk der Offenburger Zeitungszarin.) Ein Photo über vier Spalten.
Danach folgte sein Besuch in der Redaktion. Er bewahrte sein Lächeln, als Schorba und ich die Hände zu einem Sitz verschränkten und ihn die schmale Treppe hinauftrugen. Er ist leicht wie ein Vogel, seine um unsere Schultern gelegten Arme spürte ich kaum. Andy und der Baron schleppten den Rollstuhl, und oben warteten schon die Damen und applaudierten. Astrid ließ sich kaum bändigen, wedelte wild mit dem Schwanz und gab erst Ruhe, als ihre Schnauze auf dem Knie des Erbprinzen lag.
Frau Schorba verhedderte sich bei der Begrüßung sofort in dem von ihr selbst abgeschriebenen Zeremoniell, errötete und mußte sich von ihm beruhigen lassen. Er sei ein hinfälliger Rentner, sagte er, froh und dankbar, nach Altenburg zurückkehren zu dürfen. Seine Stimme ist so fragil wie seine ganze Gestalt. Die ringlosen Hände, die auf der dünnen Decke über seinen Knien liegen, zittern immer ein wenig. Will er etwas sagen, befeuchtet er die Lippen. Mitunter geschieht dies auch absichtslos, weshalb er uns dann fragend anschaut, um zu erfahren, warum wir verstummen.
Obwohl ich von» Wochenblatt« und » Sonntagsblatt «sprach, das diesen Sonntag zum ersten Mal erscheinen würde, klang es wohl so, als wären wir noch eine Firma. Dann durfte Georg ihm den Reprint der» Herzöge von Altenburg«überreichen. Der Erbprinz blätterte und fand gleich die gedruckte Widmung:»Seiner Hoheit, dem Erbprinzen Franz Richard von Sachsen-Altenburg anläßlich seines Besuches in Altenburg am 7. und 8. Juli 1990 in Verehrung und Freude zugeeignet.«
Georgs Artigkeit, er habe das Buch nur dank der großzügigen Hilfe des Herrn von Barrista herausbringen können, überhörte der Erbprinz, und Barrista blickte finster drein.
Wir schoben den Erbprinzen in den Computerraum. Auch Mutter, Vera und Michaela bekamen nun unser Allerheiligstes zu sehen. Alle lächelten. In das Schweigen hinein sagte ich, daß wir uns als Rebellen und Aufständische fühlten. Da die großen SED-Bezirkszeitungen bald unter Springer, WAZ und Co. aufgeteilt würden, stünden wir allein gegen ganze Armeen. Bereits jetzt gebe es kaum noch ostdeutsche Zeitungen in der Hand von Ostdeutschen. 363Ja, sagte der Erbprinz, dabei könne er uns nur alles Glück dieser Welt wünschen. Denn eine eigene Stimme sei wichtig.
Frau Schorba nickte und wollte ihren ersten Auftritt vergessen machen, indem sie, um dialektfreien und gehobenen Ausdruck bemüht, verkündete, wie wichtig es für sie sei, eigenverantwortlich zu arbeiten. Wir müßten das Arbeiten nicht erst lernen, schloß sie abrupt, als sei sie ihrer eigenen Redeweise überdrüssig geworden.
Der Erbprinz ließ keine Verlegenheit aufkommen und erkundigte sich nach unseren Vorlieben, Gewohnheiten, Lieblingsgerichten und nach der hiesigen Landwirtschaft. Ein paar spärliche Antworten inspirierten ihn zu einem kleinen Vortrag. Er halte dafür, daß jedes Gemüse und jedes Obst seine natürliche Zeit haben solle. Erdbeeren im Frühjahr und Bratäpfel im Winter. Die hereinbrechende Überfülle sei den Menschen nicht zuträglich.
Das könne gut sein, antwortete Mona, davon verstehe sie nichts, doch das Angebot, das sie in dieser Woche kennengelernt habe, wolle sie um nichts in der Welt wieder missen, auch wenn sie es sich nicht immer leisten könne. Die Zeit, in der sie früher endlos habe anstehen müssen, um für ihren Sohn Pfirsiche oder Paprika zu kriegen, diese Zeit wünsche sie sich nicht zurück. Mona erhielt Zuspruch. Der Erbprinz wandte sich immer, soweit es der Rollstuhl erlaubte, dem jeweiligen Sprecher zu, hielt hin und wieder die Hand hinters Ohr und lächelte. Auch wenn er mit dem Gesagten nicht viel anzufangen wußte, so war es, wie er später bekannte, der Klang des Altenburgischen gewesen, der ihn wie ein Duft berauscht habe. Auf einmal wollte jede und jeder zu Wort kommen.
Pringel, bleich unter seinen Barthaaren, rief über die Köpfe von Evi und Mona hinweg, daß er in der SED gewesen sei und für eine Betriebszeitung — er mußte erklären, was das ist — Artikel geschrieben habe, für die er sich heute schäme, jawohl, abgrundtief schäme.
Pringel war aufgestanden, als ließe sich anders nicht von seinem Artikel reden.»Und trotzdem, trotzdem«, fuhr er atemlos fort, wenn man bedenke, was er alles geschrieben habe, das sei doch viel mehr, viel mehr als das, wofür man jetzt mit dem Finger auf ihn zeige und seine Frau beschimpfe. Hunderte von Artikeln!
Und ganz unvermittelt, ohne den Tonfall zu ändern, nannte Pringel es eine Gnade, eine Gnade des Schicksals, noch mal eine Chance zu bekommen, eine Chance, wie sie sich ihm nie geboten, ja an die er nicht mehr geglaubt habe. Sein Leben außerhalb der Familie habe zum ersten Mal einen Sinn, zum ersten Mal fühle er sich gebraucht. Er senkte den Kopf und starrte zu Boden. Sein Schweigen wirkte fast trotzig.
Man seufzte, räusperte sich, sah einander an und blickte gleich wieder weg. Der Erbprinz nannte ihn einen ehrlichen Jungen und wollte noch etwas sagen, als Pringel bereits vor ihm stand, die Hände des Erbprinzen ergriff und ihnen mit dem Gesicht bedenklich nahe kam.»Ich danke Ihnen, daß Sie sich hierherbemüht haben. «Er hielt inne wie einer, der merkt, daß er den falschen Text hat und auf das Flüstern der Souffleuse wartet.
«Einmal habe ich richtig geliebt«, sagte Evi, wie um Pringel aus der Patsche zu helfen,»doch nach der dritten Fehlgeburt hat mich Matthias verlassen. «Sie habe an Selbstmord gedacht, alles sei für sie zu Ende gewesen. Seit dem Vorstellungsgespräch hier bei uns mache sie täglich Dauerlauf, weil sie sich selbst wieder gefallen und schlank werden wolle. Sie schäme sich, das zu sagen, aber sie sei überzeugt davon — solange sie im Dauerlauf durchhalte, sei sie gefeit vor jeglichem Unglück, werde ihre Stelle behalten und einen Mann finden und Kinder kriegen. Für manche sei das ja nichts Besonderes, für sie schon.»So«, sagte sie zum Schluß.
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