Die unermeßliche Leere, die an meiner Statt existierte, entsprach ganz der endlosen, gewaltigen Zeit, in der sie schwebte. Ich staunte, welche Unendlichkeit ein Tag in sich barg. Nein, so einfach war es nicht. Ich lag im Bett, stand nur auf, wenn ich aufs Klo mußte, und trank von dem Tee, den mir Michaela morgens und abends ans Bett stellte. Ich schlief ein und erwachte, schlief ein und erwachte und wunderte mich, wo Robert blieb, warum er nicht aus der Schule kam. Doch nicht nur er, auch Michaela verspätete sich mehr und mehr. Je länger ich wartete, um so wahrscheinlicher, ja unausweichlicher schien irgendein Zwischenfall zu sein, vielleicht sogar ein Unfall. Als ich mich endlich entschlossen hatte, meine Armbanduhr vom Schreibtisch zu holen, war sie auf halb zehn stehengeblieben. Durch meine Berührung kam sie wieder in Gang. Später, draußen war es immer noch hell, schaffte ich es bis in die Küche. Die Uhr über der Tür zeigte zwanzig vor elf, genau wie meine Armbanduhr! Ich lag im Bett und staunte, was aus Minute und Stunde geworden war, zu welchen Monstern sie sich entwickelt hatten. Mit Hohn dachte ich daran, was ich nun alles an einem Vormittag hätte bewältigen können. Mühelos hätte ich eine Geschichte pro Tag geschrieben, nebenbei den Haushalt erledigt, ferngesehen, gelesen. Nun, da mich all das nichts mehr anging, konnte ich gottgleich über die Zeit verfügen. Nicht mal elf! Stellen Sie sich vor, Sie haben einen langen Traum, einen sehr langen Traum, einen, der andere Träume fortführt. Beim Erwachen glauben Sie, der Wecker werde gleich klingeln, dabei sind keine zehn Minuten vergangen, und im gegenüberliegenden Haus brennt überall noch Licht.
Ich zählte die Sekunden, die ich für einen Atemzug brauchte, um wieder ein Gefühl dafür zu bekommen, was eine Minute, was fünf Minuten bedeuteten. Sobald ich die Uhr aus der Hand legte, war ich überzeugt, jeden Tauchrekord brechen zu können. Noch schlimmer mißlang jenes Experiment, das mich schon als Kind beschäftigt und von dem ich mir eine Beschleunigung der Zeit erhofft hatte: Mit der Lupe — Robert besitzt eine für seine Briefmarken — beobachtete ich den Minutenzeiger. Ja, ich sah die Bewegung, aber es nützte nichts.
Irgendwann besuchte mich ein Schmerz. Ich muß es wirklich so sagen, der Zahnschmerz erschien als Gast in meiner Leere. Dafür war ich dankbar. Mit geschlossenen Augen versuchte ich herauszufinden, wo er sich niederlassen würde, denn anfangs irrlichterte er umher, tauchte mal oben auf, mal unten, mal rechts, mal links. Dann hatte er seinen Platz gefunden: unten links. Damit Sie mich verstehen, muß ich es wohl so ausdrücken: Ich klammerte mich an diesen Schmerz. Doch eigentlich müßte es heißen: Ich war der Schmerz. Außer ihm gab es nichts. Und so war es natürlich, daß ich versuchte, ihn zu hegen. Ich beobachtete ihn unaufhörlich wie ein Kind seinen Hamster am ersten Tag und überließ mich ganz der jedes Maß übersteigenden Zeit. Je größer der Schmerz, desto kleiner die Leere. Erst wenn er ganz von mir Besitz ergriffen haben würde, wollte ich — als Krönung der Tortur — zum Zahnarzt gehen. Ich verlor mich regelrecht in den Details einer qualvollen Zahnbehandlung.
Wie einer, der fürchtet, im Schlaf bestohlen worden zu sein, und hastig seine Taschen abklopft, forschte ich beim Erwachen nach meinem Schmerz. Und war jedesmal erleichtert, ihn an seinem Platz zu finden. Und nicht nur das, er breitete sich aus, kroch und pockerte 346den Kiefer entlang und stieß bis in den Hinterkopf vor. Er war eine Art Unterpfand für mich, die einzig verläßliche Größe.
Ich verwahrloste. Der Geruch, den ich, hob ich die Decke, an mir feststellen konnte, die langen Fingernägel, die Verpelzung der Zähne — ich nahm all das zur Kenntnis wie einen Defekt meiner Umgebung, wie eine kaputte Glühbirne, für die kein Ersatz im Haus ist. Als meine Bartstoppeln so lang waren, daß sie aufhörten zu piken, vergaß ich meinen Körper ganz. Das lag natürlich auch an meiner Müdigkeit, eine fortwährende Müdigkeit, in der Traum und Wachen oft ununterscheidbar blieben. In der Betrachtung ferner Städte und Schiffe fuhr ich fort. Es war bedeutungslos, ob ich dabei die Augen offenhielt oder schloß, es blieben dieselben Orte, in denen ich umherirrte, ohne selbst zu erscheinen.
Für Michaela und Robert sah es aus, als schliefe ich ununterbrochen. Wenn Michaela mir morgens Tee ans Bett brachte, legte sie die Hand auf meine Stirn. Sie gab sich Mühe, kochte mir Milchreis und bat Tante Trockel, Apfelmus für mich zu machen. Ich wollte das alles nicht, ich wollte nur Ruhe, ließ es aber über mich ergehen, als sei das mein Dank dafür, daß Michaela mir die Krankschreibung von Dr. Weiß zuerst für eine, dann für eine zweite Woche besorgt hatte.
Nach Ablauf der Frist quälte ich mich selbst in die Poliklinik. Es war Nikolaus, der 6. Dezember, ausgerechnet jener Tag, an dem Michaela und Jörg und ein paar andere die Villa der Staatssicherheit besetzt hatten, mittags ein Flugblatt druckten, es verteilten und Punkt 18 Uhr am Theater ihre Demonstration begannen. Michaela schien nun endgültig jene Energie, die mir fehlte, hinzugewonnen zu haben. In der halben Stunde, die sie nachmittags zu Hause war, hatte sie, meine Abwesenheit ausnutzend, die Bettwäsche in die Maschine gesteckt, es jedoch nicht mehr geschafft, die Liege frisch zu beziehen. Als ich mit einer erneuten Krankschreibung, diesmal gleich für zwei Wochen, zurückkehrte, fand ich mein Krankenlager aufgelöst, was mich wie ein Rauswurf traf. Ich verzichtete auf ein neues Laken, wühlte statt dessen meinen alten Daunenschlafsack aus dem Schrank, entrollte ihn auf der Liege, kroch in Unterwäsche hinein und zog mir die Kapuze über den Kopf.
Michaela war an diesem Abend außer sich. Ich konnte mich nicht erinnern, daß sie je mein Zimmer betreten hatte, ohne anzuklopfen. Sie stand plötzlich vor mir, ich hörte ihren Schlüsselbund und ihre Stimme, noch bevor ich die Augen geöffnet hatte. Sie redete nicht nur schnell. Jeder Satz erforderte drei oder vier weitere Sätze zu seiner Erklärung, die wiederum andere Sätze nach sich zogen, weshalb sie kaum zum Luftholen und Schlucken kam und immer hastiger sprach. Die eigentliche Zumutung bestand aber in der Erwartung, ich würde aufstehen, mich anziehen und mit ihr zur Demonstration zurückkehren.
Selbst wenn ich nicht krank gewesen wäre, hätte sie doch wissen müssen, wie wenig mich das alles anging, ja wie gleichgültig es mir war, ob an der Spitze eines Demonstrationszuges» Deutschland einig Vaterland «und» Wir sind ein Volk «skandiert wurde und ob irgendein Jörg oder Hans-Jürgen einen oder keinen Versuch unternommen hatte,»das zu unterbinden«.
Mit jedem Satz begriff ich von neuem, wie unfähig ich war, an diesem Leben teilzunehmen, wie sinnlos sich jede Anstrengung ausnahm.
Die Antwort auf Michaelas Frage, was denn der Arzt gesagt habe, fachte ihren Zorn von neuem an. Irgendwann verglich sie mich mit einer Raupe, einer fetten Raupe, was angesichts des Schlafsacks nicht sonderlich originell war. Das verstand ich als Ankündigung, sich fortan nicht mehr um mich zu kümmern. Ärgerlich war der darin versteckte Vorwurf, ich sei ein Simulant. Wie richtig ich die Situation eingeschätzt hatte, zeigte sich bereits am nächsten Tag, als Robert mich bat, ihm bei den Hausaufgaben zu helfen. Besonders setzten mir seine Bitten zu, ihn hierhin oder dorthin zu fahren. Was Michaela früher meist aus pädagogischen Gründen verboten hatte, schien sie nun regelrecht anzuregen. Ja sie selbst quälte mich in den nächsten Tagen mit Wünschen, als hätte sie meinen Zustand vergessen.
Das Zusammenleben mit den beiden wurde mehr und mehr zur Tortur. Eine Rückkehr ins Theater schloß ich aus. Vera war abgetaucht, von Geronimo trafen beinah täglich weitschweifige Episteln ein, die ich schließlich nicht mal mehr öffnete. Von dem Unglück, mit dem meine Mutter kämpfte, wußte ich damals noch nichts. Sie stellte die völlig unsinnige Behauptung auf, Vera sei schuld an meinem Zusammenbruch. Michaela wiederum nahm stundenweise das Leid der Welt auf ihre Schultern und fühlte sich für meine Verwahrlosung verantwortlich, bis ihr wieder der Geduldsfaden riß. Hartnäckig verteidigte ich meinen Schlafsack gegen sie, ließ jedoch zu, daß sie die Liege mit einem Laken bezog.
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