Sei umarmt von Deinem Heinrich
PS: Ich sitze am» grünen Ungeheuer «und spüre Zugluft im Rükken. Ich denke, Jörg oder Georg ist hereingekommen. Ich drehe mich um — und muß niesen.»Gesundheit«, sagt eine Frauenstimme. Die Tür ist geschlossen. Zweimal niese ich noch, und jedesmal wünscht mir die Frauenstimme mit demselben Gleichmut» Gesundheit!«—»Wer sind Sie?«frage ich und trete näher. Sie kauert am Ofen und massiert sich die Zehen. Ein Lächeln huscht über ihr Gesicht und entspannt kurz ihre Züge. Dann zieht sie zischelnd die Luft durch den Mund ein und atmet hörbar durch die Nase wieder aus. An den Fersen haben ihre Strümpfe Löcher.»Schau weg«, sagt sie.»Ich dachte«, fährt sie fort und preßt für einen Moment die Lippen zusammen,»ich dachte, du hättest mich hereingebeten? Ich hatte geklopft. «Mit dem Rükken an den Ofenkacheln schiebt sie sich langsam hoch. Sie versucht, in ihre Schuhe zu fahren.»Au! Au!«jammert sie.»Es tut so weh!«
«Um Himmels willen!«rufe ich. Was ich für eine im Mundwinkel hängengebliebene Haarsträhne gehalten habe, erweist sich jetzt, da sie zur Decke sieht, als Narbe. Ich begreife, daß sie eine Adlige ist.
«Er wärmt nicht mehr«, sage ich entschuldigend und deute auf meinen Mantel neben der Tür. Ich ärgere mich, weil ich seit Tagen plane, ihn in die Reinigung zu bringen, um ihm seine alten Eigenschaften zurückzugeben.»Wollen Sie mich begleiten?«frage ich.»Wenn wir gleich loslaufen, schaffen wir es bis sechs in die Reinigung.«
«Wie soll ich das denn anstellen?!«ruft sie. Tränen ersticken ihre Stimme. Ob ich keine Augen im Kopf hätte, selbst einem Blinden müsse auffallen, wie wenig sie in der Lage sei, auch nur einen Schritt zu gehen!
«Darf ich Sie tragen?«frage ich, ohne die Erwartung in meiner Stimme unterdrücken zu können. Ihre Bluse hat sich unten geöffnet, und ich sehe von ihrem Bauch ein Dreieck, in dessen Mitte der Nabel ist, genau wie das Auge Gottes, denke ich. Ich freue mich über den Vergleich. Gerade aus Mißlichkeiten, sage ich, entstehen oft die schönsten Gelegenheiten. Da lacht sie auf. Unverhohlen wandern ihre Augen über mich. Offenbar reizt sie alles an mir zum Lachen, ich scheine es herauszufordern. Schließlich wird sie von einem Lachkrampf geschüttelt, dessen sie nicht mal Herr wird, als sie beide Hände vor den Mund hält. Sie ringt nach Luft, biegt sich vor Lachen, ihre an den Spitzen hellroten Haare fallen ihr übers Gesicht und verbergen es vollständig.
Ich saß schon auf der Bettkante und lauschte, so sicher war ich mir, das Lachen gehört zu haben. Es war vier! Mein Tag hatte begonnen.
Verotschka,
ich verlasse die Redaktion nur ungern, weil ich fürchte, Deinen Anruf zu verpassen. Komme ich herein, muß ich mich beherrschen, nicht jedesmal nach Dir zu fragen. Ich werde ungehalten, wenn Jörg oder Georg zu lange telephoniert. Ich habe versucht, Dich von Paris aus zu erreichen, aber irgend etwas habe ich falsch gemacht und auch die Telephonansage nicht verstanden.
Ja, wir sind in Paris gewesen, zumindest behaupten wir das. Am Sonntag um neun waren wir schon wieder zurück.»Wir kommen aus Paris!«verkündete Robert einer Nachbarin im Treppenhaus. Statt zu staunen oder Fragen zu stellen, sah sie Michaela und mich tadelnd an, als duldeten wir Lügengeschichten. Was Michaela dann erzählte, die Prozedur mit den Ausweisen, machte ihr das Ganze erst recht suspekt. Die Wahrheit hilft einem gar nichts, wenn man jemanden überzeugen will!
Ich bin froh, daß es überstanden ist. Ich hatte mir schließlich eingeredet, wegen Robert mitzufahren, ein Familienausflug eben. Michaela meinte, wir könnten es uns auch ohne Geld schön machen.»Drei-Tage-Fahrt «hieß es offiziell. Der erste Tag war der Freitag. 17 Uhr sollten wir in Eisenach abfahren.
Hunderte von Leuten warteten auf einem matschigen Platz, umgeben von Abrißhäusern und ein paar trüben Lampen. Ohne die Taschen und Beutel hätte es wie der Beginn einer Demonstration ausgesehen. Mamus hatte seit zwei in Eisenach auf uns gewartet. Sie war völlig aufgelöst, weil wir erst gegen halb fünf ankamen. Die eintreffende Bus-Armada scheuchte uns von einem Ende des Platzes zum anderen vor sich her. Die Fahrer erschienen in den sich öffnenden Türen, riefen ihre Zielorte aus und setzten sich wieder ans Steuer.
Paris gab es zweimal. Nachdem wir schon gefürchtet hatten, nicht mehr mitgenommen zu werden, fanden wir dann in der dritten und vierten Reihe Plätze, von denen aus wir sogar durch die Frontscheibe sehen konnten. Neben uns wartete die Fuhre nach Amsterdam, links von uns die nach Venedig. Die Prozedur war überall gleich. Zuerst wurden bundesdeutsche Ausweise verteilt, in denen alles richtig war, bis auf Name und Wohnort. Selbst Größe und Augenfarbe stimmten. An der französischen Grenze, so die Anweisung, sollten wir die Ausweise hochhalten 35und uns unauffällig verhalten, was immer sie damit meinten. Im Venedig-Bus übten sie das Hochhalten sogar. Als sie anfuhren, winkten sie.
Robert hatte mich zum Nachbarn erkoren, die Sitze waren sehr bequem und der Motor fast nicht zu hören. Kein lautes Wort störte den sanften Flug über die dunkle Autobahn. Als würde ich es nicht anders kennen, verließ ich bei jedem Stopp mit den anderen den Bus, beteiligte mich am Wettlauf zur Toilette und stopfte mir bei jeder Rast ein hartgekochtes Ei aus Mamus’ Picknickschachtel in den Mund.
Noch vor Mitternacht stiegen wir am Frankfurter Flughafen aus, der ersten Sehenswürdigkeit der Reise. Wir durchstreiften die hellen menschenleeren Hallen, lasen die Namen der Fluggesellschaften und grüßten die dunkelhäutigen Putzfrauen, die sich daraufhin abwandten.
Die Franzosen interessierten sich nicht für unseren Bus, und auch wir bemerkten Frankreich erst bei der nächsten Pinkel-pause. Mamus schnarchte leise. Müde wurde ich erst, als es dämmerte. Ich sah das Dunkelgrau über den Pariser Vorstädten, und im nächsten Augenblick fuhren wir bereits durch die Stadt. Es nieselte, und der Himmel schien dunkler geworden. Ich brauchte bis zur Place de la Bastille, um zu wissen, wo wir waren. Von dort aus funktionierte mein Orientierungssinn ohne Fehl und Tadel. Ich brillierte vor Robert und Michaela und war dabei selbst überrascht, daß wir über den Boulevard Henri IV fuhren und rechts die Inseln auftauchten und tatsächlich Notre-Dame erschien. 36Ich betete unser Sehnsuchtsmantra: Quai de la Tournette, Quai de Montebello, Quai St-Michel, Quai des Grands und sah auf die vertrauten Kästen der Bouquinisten.
Während ich gerade noch rechtzeitig den Louvre prophezeite, spürte ich Unbehagen. Ich brannte das Feuerwerk unseres jenseitigen Wissens ab, ohne dabei etwas zu empfinden. Vielleicht hast Du einfach gefehlt, oder ich ahnte, daß es eine Stunde später bereits so profan sein würde wie die Auskunft eines Taxifahrers. Ach, es war schon im selben Moment zum streberhaften Wissen eines Hausvaters verkommen, der den Urlaub gewissenhaft vorbereitet hat!
Wir fuhren über die Pont de la Concorde gen Norden, vorbei an der Madeleine und dem St-Lazare, die Rue de Amsterdam hinauf. Ich vermutete Sacré-Cœur als nächstes Ziel und hoffte, beim ersten Sonnenstrahl und einem Kaffee würde es halbwegs erträglich werden, als der Fahrer bekanntgab, wir befänden uns auf dem Weg zur berühmtesten» Mausefalle «der Welt. Wir bogen zweimal ab, sehr langsam nahmen wir die Kurven, unser Bus schwankte hin und her und wurde auf einmal vorn wie von einer Welle hochgehoben, bevor wir weiterrollten.
Dann sah ich die Frauen, die den Gehsteig säumten, Huren, morgens um acht. Das Gerede im Bus erstarb, der Fahrer schwadronierte über die Käuflichkeit der Liebe. Mitten in seinem Geplapper krachte es unter uns, als wären wir auf Grund gelaufen. Der Fahrer fluchte, und die Lautsprecher verstummten mit einem Knacks. Langsam fuhren wir weiter. Die Stille, in der wir zu den blanken Fenstern hinaussahen, hatte etwas Andächtiges. Diese Ungeheuerlichkeit, sich für ein paar Geldscheine Frauen aussuchen zu können! Robert wandte sich mit einem irren Grinsen nach mir um, zögerte, als wolle er etwas fragen, starrte aber gleich wieder hinaus, die Stirn an der Scheibe.
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