Ich deutete auf ein Portal und sagte:»Das Tor für die Reiter, Madame«, und Du sagtest, indem Du auf die Tür daneben zeigtest:»Das Tor für die Fußgänger, Monsieur.« 41Fortwährend hast Du etwas gesehen, was ich nicht sah, das ich immer nur erblickte, wenn Du mich darauf hinwiest: Das Schild DANGER DE MORT auf dem blauen Kasten, der mit durchsichtiger Folie eingehüllt ist, DANGER DE MORT. Ich habe Angst, Dich zu verlieren. Aber ich darf mir das nicht anmerken lassen. Ich muß mich entscheiden, ich muß in zwei Stunden in den Zug steigen, zurück, zurück hinter die Mauer, sie haben mich nur kurz rausgelassen, weil mein Buch hier erschienen ist, weil es in allen Auslagen liegt und wir von Schaufenster zu Schaufenster ziehen. Es ist noch zu früh, die Buchläden haben geschlossen.
An der Kreuzung setzen sich die Buchstaben auf den Vordächern zu» Dome «und» Rotonde «und» Toscana« 42zusammen. Nein, sage ich, nein. Ich will nicht ohne Dich sein. Ich will Dresden mit Dir sehen, früh, wenn die Sonne noch nicht über die Dächer gestiegen ist und in der blaßrosa Luft der Morgenstern strahlt, den Nebel über der Elbe, die verschiedenen Rots, mit denen die Zigarettenfilter beringt werden, bevor man sie an der Haltestelle über den Bordstein wirft, den hellen Damenhandschuh auf dem Trottoir, dem jeder ausweicht, den keiner aufhebt, auf den niemand tritt, den ich für eine Lilie halte, herausgefallen aus Deinem Strauß, DANGER DE MORT.
Plötzlich standen Mamus und Robert vor mir, Michaela ließ sich von einem älteren Herrn etwas erklären, sah auf und winkte mir zu.»Pünktlich auf die Minute«, lobte mich Mamus. Pünktlich auf die Minute war ich aus dem Jenseits zurück. Es nieselte.
Michaela gab mir ein Taschentuch, ich sollte mir mein verschwitztes Gesicht abwischen. Mamus nötigte mir ihren Schal auf. Der Wind hatte ihren Schirm ruiniert.
Wir folgten Robert, passierten die nächstgelegenen Cafés und verloren schnell die Orientierung. Ich fröstelte, und als an irgendeiner Ecke gerade in dem Moment, da wir vorübergingen, ein riesiges Omelett serviert wurde, wäre ich vor Hunger fast gestorben. Mamus hielt ihr Portemonnaie hoch und nickte. Natürlich waren wir dort gelandet, wo niemand landen will. Der Kellner legte eine knallrote abwaschbare Plasteunterlage vor jeden von uns, als wären wir Kinder. Michaela übernahm mit ihrem Schulfranzösisch die Bestellung und errötete nach dem abschließenden» Merci, Madame «des Kellners.
Der Kellner brachte eine Bierdose und schenkte mir ein, was wir andächtig verfolgten. Kaum hatten wir unser» Merci «geflüstert, als Michaela sagte, sie habe eigentlich nur Wasser bestellt. Ich trank den bitteren skandinavischen Import und hätte vor Müdigkeit am liebsten den Kopf auf den Tisch gelegt. Zur Toilette führte ein schmaler Gang, in dem ich mich an Fässern und Tüten vorbeizwängen mußte. Aus der Tiefe des Hauses kam mir jemand entgegen, der exakt dieselben Bewegungen vollführte wie ich. Kurz voreinander bogen wir gleichzeitig ab. Hier also haust mein Doppelgänger. Mein Bier war dann teurer als das Omelett. Wir schrieben ein paar Karten, eine auch an Dich.
Während der ganzen Zeit hörten wir von draußen Musik, eine Band, die ganz in der Nähe spielen mußte. Robert, der merkte, wie sehr seine Neugier Mamus freute, drängte zum Aufbruch. Dementsprechend enttäuscht war er, als wir nirgendwo eine Bühne sahen, nirgendwo ein Publikum, als gehörten die Beatles, Neil Young und Elton John zur Pariser Luft.
An der Ecke saß ein Japaner, umringt von einigen Geräten, auf den Schultern ein Gestänge, das die Mundharmonika festhielt, auf den Knien die Gitarre. Ich brauchte einen Moment, bis ich begriff, daß wir vor des Rätsels Lösung standen. Dieser Japaner war der echte, der wahre Orpheus von Paris. Wenn er bei» Heart of Gold «nicht gerade in die Mundharmonika blies, stand wegen der Kälte immer ein weißes Atemwölkchen vor seinem Mund, als sänge er sich tatsächlich die Seele aus dem Leib.
Eine Weile bestaunten wir ihn. Ich gab ihm meine restlichen Francs und empfand dabei eine große Befriedigung. Glück und Gleichgültigkeit ähnelten sich zum Verwechseln. Wir konnten bleiben oder abfahren, alles war gut.
Bei der abschließenden» Lichterfahrt«, die eigentlich schon zur Rückfahrt gehörte, schlief ich ein. Ich hatte das Gefühl, alle paar Minuten aufzuwachen, ohne daß mir der Traum entglitt. Einmal muß ich so schnell wie möglich zurück, plötzlich steht statt VKU nur noch KU 43auf meinem Urlaubsschein. Ich kann die Uniform in der ganzen Wohnung nicht finden. Ich ärgere mich, weil ich gar keinen Urlaub gewollt hatte und nun ohne Uniform in einem Zug sitze, der immer lange hält, um seine Ankunfts- und Abfahrtszeiten einzuhalten. Von draußen blendet die Sonne, nicht mal die Stationsschilder sind zu erkennen. Niemand wird mir am Kasernentor glauben, daß ich Soldat bin. Da fallen mir die kurzen Haare ein. Ich zupfe unentwegt an ihnen, um zu üben, wie ich sie vorzeigen werde.
Statt der Fahrkarte ziehe ich einen Geldschein hervor und halte ihn so, als betrachtete ich eine Taschenuhr. Es ist ein Zehn-Franc-Schein. Bleiben mir also noch zehn Minuten für den Rückweg. Ein Franc nach dem anderen vergeht, ohne mich zu ängstigen. Ich weiß, daß ich träume und daß ich nur noch ein bißchen warten muß, dann wache ich von selbst wieder in Paris auf. In Paris werde ich meine Uhr verkaufen, um mir den Aufenthalt leisten zu können. Ich greife in die Tasche. Statt einer Uhr ziehe ich immer wieder Zehn-Franc-Scheine hervor. Ich überlege, wie oft ich das noch machen muß, damit ich einen Tag bleiben kann, eine Woche, ein Jahr.
Während die Mitreisenden im Abteil sich mehr und mehr wie Schüler auf einem Ausflug benehmen und einander mit ihren westdeutschen Ausweisen, die sie wie Taschenspiegel in der Handfläche halten, blenden, bleibe ich ruhig, weil ich ja die Dinge besitze. Ich bin überzeugt, die Dinge mindestens ebenso schnell parat zu haben wie sie die Ausweise, denn meine Jo-Jo-Hand, mit der ich gerade die farbigsten Früchte wie Tennisbälle fange und zurückwerfe, gewinnt zunehmend an Geschicklichkeit. Nicht nur das. Ich benenne auch jede Frucht. Wie leicht mir das Französische fällt, ich lese es von einem Täfelchen ab, das zugleich mit jeder Frucht erscheint, ich muß nicht mal Vokabeln lernen! Erst als ich zweimal hintereinander dieselbe Frucht fange, die mattorange und fünfsilbig schimmert, fällt mir auf, daß sich meine Stimme mit jeder Frucht ändert und ich längst eine Melodie singe. Um die Aufmerksamkeit der Mitreisenden zu erregen, muß ich die Früchte in jongleurhafter Schnelligkeit aufeinanderfolgen lassen, andernfalls wird die Musik, die in meinem Handeln klingt, unbemerkt bleiben. Schon im nächsten Moment bereue ich mein neues Tempo. Es ist unmöglich, die mehrsilbigen Worte auch nur annähernd vollständig auszusprechen. Zweimal fliegt mir die Frucht Merci zu, doch jedesmal gelingt mir nur Merz zu sagen. Merz, krächze ich, Merz. Meine Stimme ist dahin. Egal wie farbenreich die Frucht schillert, jedesmal krächze ich Merz, Merz, nur Merz. Die Mitreisenden machen sich einen Spaß daraus, nach meinen Früchten zu haschen. Ich bin empört darüber. Mamus ermuntert die anderen sogar, weil sie glaubt, ganz in meinem Sinne zu handeln. Ich schreie Mamus an, aber bevor ich ihr Gesicht sehen kann, wird die Abteiltür aufgerissen. Im selben Moment treffen die Reflexe der Handspiegel auf dem Abzeichen an der Mütze des Grenzers zusammen. Er nickt und will schon die Tür wieder schließen, als sein Blick auf mich fällt. Ich hebe die Hand, aber ich hebe sie nur wie zum Gruß, weil ich selbst schon nicht mehr daran glaube, daß mir irgendeine Frucht zufliegt. Alle stöhnen auf. Meinetwegen werden wir auf das Abstellgleis gewinkt.
Dein Heinrich
Lieber Jo!
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