Für einen Moment gelang es Humboldt nicht, ein selbstgefälliges Lächeln zu unterdrücken. Er hoffe immer noch, sich Baudin anzuschließen und mit ihm zu den Philippinen zu fahren. Er trage sich mit dem Gedanken, den Kapitän in Acapulco abzufangen, damit man sich gemeinsam der Untersuchung der seligen Inseln widmen könne.
Gemeinsam, wiederholte Duprés. Der seligen Untersuchung der Inseln.
Der Untersuchung der seligen Inseln!
Duprés strich es durch, schrieb es neu und bedankte sich.
Dann besuchten sie die Ruinen von Teotihuacan. Sie schienen zu groß für menschliche Erbauer. Auf einer geraden Chaussee gelangten sie zu einem von Tempeln um-standenen Platz. Humboldt setzte sich auf den Boden und rechnete, die Menge beobachtete ihn aus der Entfernung.
Bald wurde es den ersten langweilig, manche begannen zu schimpfen, nach einer Stunde waren die meisten und nach neunzig Minuten die allerletzten gegangen. Nur die drei Journalisten blieben. Bonpland kam verschwitzt von der Spitze der größten Pyramide zurück.
So hoch habe er es sich nicht vorgestellt!
Humboldt, den Sextanten in Händen, nickte.
Vier Stunden später, längst war es Abend, saß er immer noch da, in der gleichen Haltung über das Papier gebeugt, Bonpland und die Journalisten waren frierend eingeschlafen. Als Humboldt kurz darauf seine Instrumente einpackte, wußte er, daß die Sonne am Tag des Solstitiums von der Chaussee aus gesehen genau über der Spitze der größten Pyramide auf- und durch die Spitze der zweitgrößten unterging. Diese ganze Stadt war ein Kalender. Wer hatte das erdacht? Wie gut hatten die Menschen die Sterne gekannt, und was hatten sie mitteilen wollen? Seit über tausend Jahren war er der erste, der ihre Botschaft lesen konnte.
Warum er so bedrückt sei, fragte Bonpland, der vom Klappern der Instrumente wach geworden war.
So viel Zivilisation und so viel Grausamkeit, sagte Humboldt. Was für eine Paarung! Gleichsam der Gegen-satz zu allem, wofür Deutschland stehe.
Vielleicht sei es Zeit zur Heimkehr, sagte Bonpland.
In die Stadt?
Nicht in diese.
Eine Weile sah Humboldt in den bestirnten Nachthimmel. Gut, sagte er dann. Er werde diese erschreckend intelligent geschichteten Steine verstehen lernen, als wä-
ren sie Teil der Natur. Danach werde er Baudin allein zu den Philippinen aufbrechen lassen und das erste Schiff nach Nordamerika nehmen. Von dort würden sie zurück nach Europa fahren.
Zuvor aber reisten sie zum Vulkan Jorullo, der vor fünfzig Jahren ganz plötzlich unter Donner, Feuersturm und Ascheregen aus der Ebene gestiegen war. Als er in der Ferne auftauchte, klatschte Humboldt vor Aufregung in die Hände. Dort hinauf müsse er noch, diktierte er den Journalisten, davon sei die endgültige Widerlegung der neptunistischen Thesen zu erwarten. Wenn er an den großen Abraham Werner denke, er buchstabierte den Namen, tue ihm das beinahe leid.
Am Fuß des Vulkans empfing sie der Gouverneur der Provinz Guanajuato mit großem Gefolge, darunter der Erstbesteiger, ein alter Herr namens Don Ramon Espei-de. Der bestand darauf, die Expedition anzuführen. Die Sache sei zu gefährlich, um sie Laien zu überlassen!
Humboldt beteuerte, daß er mehr Berge erklettert habe als irgendein Mensch.
Ungerührt gab Don Ramón ihm den Ratschlag, nicht direkt in die Sonne zu schauen und bei jedem Aufsetzen des rechten Fußes die Madonna von Guadaloupe anzu-rufen.
Sie kamen schleppend voran. Immer wieder mußten sie auf den einen oder anderen Begleiter warten; besonders Don Ramón rutschte immer wieder aus oder konnte vor Erschöpfung nicht weiter. Regelmäßig ließ sich Humboldt unter staunenden Blicken auf alle viere nieder, um mit dem Hörrohr den Felsboden zu behorchen. Oben angekommen, seilte er sich in den Krater ab.
Der Kerl, sagte Don Ramón, sei ja vollkommen irre, so etwas habe er noch nie erlebt.
Als man Humboldt wieder heraufzog, war er grün angelaufen, hustete erbärmlich, und seine Kleidung war angesengt. Der Neptunismus, rief er blinzelnd, sei mit diesem Tag zu Grabe getragen!
Ein Jammer eigentlich, sagte Bonpland. Er habe Poesie gehabt.
In Veracruz nahmen sie das erste Schiff zurück nach Havanna. Er müsse zugeben, sagte Humboldt, während die Küste im Dunst versank, er sei froh, daß es zu Ende gehe. Er lehnte sich an die Reling und schaute mit schmalen Augen in den Himmel. Bonpland fiel auf, daß er zum erstenmal nicht mehr wie ein junger Mann aussah.
Sie hatten Glück: In Havanna legte gerade ein Schiff ab, das den Kontinent hinauf und dann den Delaware-Fluß entlang nach Philadelphia fahren würde. Humboldt wandte sich an den Kapitän, zeigte einmal noch seinen spanischen Paß und erbat eine Passage.
Herrgott, sagte der Kapitän. Sie!
Himmel, sagte Humboldt.
Ratlos sahen sie einander an.
Er halte das für keine gute Idee, sagte der Kapitän.
Er müsse aber nun einmal dort hinauf, sagte Humboldt und versprach, unterwegs keine Positionsbestim-mungen durchzuführen. Er vertraue ihm völlig. Die Ozeanüberquerung damals habe er als Glanzstück der Seefahrerkunst in Erinnerung. Trotz der Seuche, des un-fähigen Schiffsarztes und der falschen Berechnungen.
Und dann ausgerechnet Philadelphia, sagte der Kapitän.
Seinetwegen könnten alle aufständischen Kolonialisten krepieren, die dort und die hier.
Er habe vierzehn Kisten mit Gesteins- und Pflanzenproben, sagte Humboldt, dazu vierundzwanzig Käfige mit Affen und Vögeln sowie einige Glasschatullen mit Insekten und Spinnentieren, die nach umsichtiger Behandlung verlangten. Wenn es recht sei, könne sofort aufgeladen werden.
Dies sei ein belebter Hafen, sagte der Kapitän. Sicher komme bald ein anderes Schiff.
Er hätte nichts dagegen, sagte Humboldt. Aber er habe nun einmal diesen Paß, und die katholischen Majestäten erwarteten, daß er sich beeile.
Humboldt hielt sich an sein Versprechen und mischte sich nicht in die Navigation. Wäre nicht ein Affe ausge-brochen, der ganz allein den halben Proviant verzehrte, zwei Taranteln befreite und in der Kapitänskajüte alles in Fetzen riß, wäre die Reise ohne Störungen vorbeige-gangen. Er verbrachte die Fahrt auf dem Hinterdeck, schlief mehr als sonst und setzte Briefe an Goethe, seinen Bruder und Präsident Thomas Jefferson auf. Während in Philadelphia die Kisten abgeladen wurden, verabschiede-ten er und der Kapitän sich von neuem.
Er hoffe sehr auf ein Wiedersehen, sagte Humboldt steif.
Gewiß nicht mehr als er, antwortete der Kapitän, dessen Uniform notdürftig geflickt worden war.
Beide salutierten.
Eine Kutsche wartete, um sie in die Hauptstadt zu bringen. Ein Bote übergab eine formelle Einladung: Der Präsident ersuche um die Ehre, sie im neu gebauten Re-gierungssitz beherbergen zu dürfen; er sei begierig, alles und mehr über Herrn von Humboldts bereits legendäre Reise zu erfahren.
Erhebend, sagte Duprés.
Ein zu kleines Wort, sagte Wilson. Humboldt und Jefferson! Und er dürfe dabeisein!
Wieso Herrn von Humboldts Reise, fragte Bonpland.
Wieso eigentlich niemals die Humboldt-Bonplandsche Reise? Oder die Bonpland-Humboldt-Reise? Die Bonpland-Expedition? Ob ihm das einmal jemand erklären könne?
Ein Hinterwäldlerpräsident, sagte Humboldt. Wen interessiere schon, was der denke!
Die Stadt Washington befand sich im Aufbau. Überall waren Baugerüste, Gruben und Ziegelhaufen, überall hörte man Sägen und Hammerschläge. Der Regierungssitz, gerade fertiggestellt und noch nicht zu Ende gestrichen, war ein klassizistischer Kuppelbau, umgeben von Säulen. Er freue sich, sagte Humboldt, als sie aus der Kutsche stiegen, einmal wieder ein Zeugnis für den Einfluß des großen Winckelmann zu sehen!
Ein Spalier ungeschickt salutierender Soldaten hatte Aufstellung genommen, ein Trompetensignal wehte durch den Himmel, eine Fahne blähte sich im Wind.
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