Er setzte sich in den grünen Sessel, sie war fertig mit den Fenstern, zog einen der oberen Pappschuber auf.
»Nicht die Schuber«, sagte er, »die müssen nicht saubergemacht werden.«
»Es ist Staub drin, sehen Sie?«, sie hielt eine Fluse zwischen den Fingerspitzen.
»Frau Potulski, Sie können wischen, was Sie wollen, aber nicht die Schuber«, wiederholte er, »ich meine es ernst.«
»Jana bitte, nicht Frau Potulski«, sie schob die Schublade wieder zurück, öffnete das Sideboard.
Wenn sie der Familie was angetan hatte, würde es dauern, bis es jemand bemerkte. Er überschlug das Vorwort, blätterte bis zum Bildteil, alle Aufnahmen waren schwarz-weiß. Niemand würde sie vermissen, sie waren im Urlaub.
»Wer gießt die Blumen«, fragte er.
Ihre Hände hielten inne, sie sah auf, »welche Blumen?«
Er blätterte weiter, er suchte die Hakenterrasse. Nach spätestens drei Tagen müsste man es riechen, es sei denn, sie hatte sie luftdicht verpackt oder im Keller versteckt oder vergraben, nein, zum Vergraben hätte die Zeit nicht gereicht. Die Hakenterrasse war von schräg oben aufgenommen.
»Kümmert sich jemand um die Post?«
Sie sah ihn stumm an, wie vorhin im Flur, als sie die Flügel und das andere Zeug mit dem Feudel aufgewischt hatte. Er hob das Buch ein wenig höher, damit sie den Titel lesen konnte. Frau Potulski goss schweigend Politur auf das Staubtuch, er hielt den Bildband aufrechter, stützte ihn auf seine Knie, sie räumte Salz und Pfefferstreuer vom Sideboard, die goldene Weltuhr, die er nicht mehr aufzog, und wischte eine Schneise in den Staub.
Die Hakenterrasse war im Sommer aufgenommen worden, die Palmenkübel standen draußen, im Winter waren sie im Gewächshaus. Seine Mutter hatte ihm erklärt, dass es Palmen waren, er hatte ihr zuerst nicht geglaubt. Palmen kannte er aus der Schatzinsel und Robinson Crusoe , Palmen waren fremdartig und schön. Die Palmen auf der Hakenterrasse waren kleiner gewesen als Mutter und die einzelnen Wedel ineinander verheddert und manche abgeknickt. Der Wind zerrte an ihnen, und alles in allem sahen sie mickrig aus. Er klappte den Bildband wieder zu, laut zu, er wollte, dass sie aufblickte. Sie blickte nicht auf, Frau Potulski wischte weiter Staub.
Er könnte sie fotografieren.
In Schwarz-Weiß. Farbe ging nicht, das quittengelbe Haar. Er könnte sie so hinstellen wie die Frau auf dem Foto, das eines Morgens zuoberst in der Altpapiertonne gelegen hatte. Inmitten alter Rechnungen und Zeitungen, die obere Hälfte verdeckt von der Mahnung einer Telefongesellschaft. Er hatte nackte Beine sehen können, und Pobacken, feiste, bleiche Pobacken, leicht auseinanderklaffend. Er hatte die Mahnung beiseitegeschoben, hatte es in die Hand genommen, auf die Vorderseite gefasst, das tat er sonst nicht. Es war schlecht fotografiert, schlecht ausgeleuchtet, weiße Lichtreflexe auf den prallen Hinterbacken, die Ritze dunkel, entzündete rote Punkte rundherum. Das rechte Knie hatte sie auf die Sitzfläche eines Stuhls gelegt, den Oberkörper vorgebeugt, die Unterarme auf der Stuhllehne verschränkt. Sie sah sich nach dem Fotografen um, die Zunge seitlich rausgestreckt, die Augen leicht verdreht, ein derbes, feistes Gesicht, ein Gesicht, mit dem man alles tun konnte, ohne dass es einem leidtat. Er kannte es nicht, es war keine seiner Nachbarinnen, hatte das Bild zurück in den Altpapierbehälter getan. Hatte sich umgesehen, der Hinterhof leer, hinter den dunklen Fensterscheiben niemand, hatte es trotzdem dort gelassen, seine alten Zeitungen in den Behälter gelegt, sorgsam achtgebend, dass sie das Bild verdeckten.
Jana Potulskis Hintern war flach, ihre Hose schlug schräge Falten, die in der Poritze verschwanden. Sie hatte aufgehört zu wischen, stand vor dem Sideboard und rührte sich nicht. Eine Hand aufgestützt, die andere, die das Staubtuch hielt, lag reglos da, wie vergessen. Sie trug wieder ein Herren-T-Shirt, ein weißes, es war ein wenig zu eng, er konnte sehen, wie ihr BH in weiches Fleisch drückte.
»Sehen Sie«, Frau Potulski drehte sich zu ihm um, lehnte sich mit dem Rücken gegen das Sideboard, »sehen Sie«, sie sah hinab auf das Staubtuch, »meine Mutter«, sie sah zum Fenster, ihr Profil war flach, Stirn und Nase beinahe eine Linie, die Nase vielleicht gebrochen und schlecht verwachsen, »meine Mutter«, wiederholte sie, »ist auf einem Lastwagen nach Poznań gekommen.«
Im Panzer vielleicht, weiß glänzend und gut gefüllt, die Arme erhoben, die Achseltäler dunkel, die Hände verschränkt hinter hellen Haaren mit schwarzem Streifen am Scheitel.
»Auf der Ladefläche eines Lastwagens, mit mir im Bauch.«
Der Bauch, vom Bund der Strumpfhose geteilt in zwei Wülste, das Bauchnabelloch im unteren Wulst.
»Drei Tage sind sie gefahren, von Hrodna nach Poznań. Die russischen Soldaten haben gesagt, nichts mitnehmen, alles sei dort.«
Die Schläuche ohne Panzer, die verrutschten Brustwarzen, das sich durch die Haut abzeichnende Flussnetz der Adern.
»Meine Mutter wollte in Hrodna bleiben, auf ihre Eltern warten, in der Ulica Długa 29, in dem Haus, in dem sie geboren wurde«, sie legte das Staubtuch neben sich auf das Sideboard, »aber die Russen haben gesagt, sofort.«
Ihr Gesicht, die schmalen Augen, die schwarz verklumpten Wimpern.
»Später, als man fahren durfte, hat sie die Ferien in Hrodna verbracht.«
Der breite Mund, den sie zusammenpresste, während sie auf ihn hinabsah, auf ihn in seinem dunkelgrünen Sessel hinabsah. So zusammenpresste, dass die gebogenen Linien, die von den Nasenflügeln zu den Mundwinkeln führten, scharf hervortraten, wie bei einem Äffchen.
»Meine Mutter wollte nicht nach Poznań, sie musste, verstehen Sie?«
Sie wartete. Sah ihn an und wartete, ihre Stirn in Falten geschoben. Er verschränkte die Arme.
»Ich werde Sie fotografieren«, sagte er.
Frau Potulski sah ihn an, rührte sich nicht, verstand nicht. Er stemmte sich mit beiden Händen aus dem Sessel.
»Ich kann nichts anderes fotografieren, Ihretwegen, ich werde Sie fotografieren«, erläuterte er geduldig. Ihre Schultern sackten nach vorn, als hätte er ihr einen spitzen Finger in den Bauch gestoßen. Sie lachte oder schnaubte, es war nicht zu unterscheiden.
»Nicht mal zugehört«, sagte sie, stieß sich vom Sideboard ab.
»Sie müssen verstehen, Frau Potulski, Ihretwegen kann ich nicht fahren.«
Sie schüttelte nur den Kopf, ging an ihm vorbei, in den Flur.
»Frau Potulski«, sagte er, sagte es laut, sie ging in die Küche, »Frau Potulski, seien Sie nicht undankbar.«
Sie stand vor der Dunkelkammer, mit dem Rücken zur Tür, drehte sich nicht um, als er hereinkam.
»Ich werde es niemandem zeigen.« Er hob die Hände, streckte sie ein wenig aus, hatte sie auf ihre Schultern legen wollen, begütigend auf ihre hängenden Schultern legen wollen.
»Nein«, sagte sie. »Sie haben nicht mal zugehört«, sagte sie.
»Ich habe Ihnen den Bus bezahlt, Ihnen zu essen gegeben, Sie auf dem Sofa schlafen lassen. Sie haben meinen Strom verbraucht, mein warmes Wasser«, zählte er auf.
»Ich bin Ihnen dankbar. Nur …«
»Nur nicht dankbar genug, dass es für ein Bild reicht.«
Er verschränkte die Arme, wartete. Sie sah hinab auf ihre Handflächen, hatte sie aneinandergerieben, kleine schwarze Würste aus Staub, Schweiß, Möbelpolitur sammelten sich in der Mitte, sie drehte den Wasserhahn auf, wusch ihre Hände, nahm Spülmittel statt Seife, trocknete sie an ihren Hosenbeinen, er wartete.
»Sie werden mich nicht fotografieren«, sagte sie schließlich, ihre Stimme fest, das breite Gesicht ruhig verschlossen.
»Gut«, er nickte, »gut. Dann werden Sie jetzt gehen.«
»Dann werde ich jetzt gehen«, sie zuckte mit den Achseln, ging an ihm vorbei, ging ins Wohnzimmer, er blieb dicht hinter ihr.
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