Er sah ihre Finger wieder die Goldränder des Tellerstapels hinabfahren, sie würde alle Schubladen öffnen und alles gründlich aus- und einräumen, vielleicht dazwischen irgendwas abwischen, damit es recht war. Sie würde in die Schränke hineinsehen, in die schwarzen Kartonschuber, in den Sekretär, in seine Wäschekommode, in den Nachtschrank. Er konnte nicht fahren.
Frau Potulski hatte auf ihn gewartet. Als er die Badezimmertür öffnete, deutete sie mit dem Finger auf den grau gekachelten Boden hinter ihm.
»Silberfische.«
Er fühlte, wie die warmfeuchte Luft an ihm vorbei in den Flur entwich, er hielt den Atem an.
»Sie müssen Fallen kaufen«, sagte sie, »viereckige Fallen für die Ecken.«
Eine hellgrüne Zahnbürste lag auf dem Waschbeckenrand, sie war recht neu, die Bürsten gerade, er stellte sie neben seine in den Zahnputzbecher.
Das Badezimmerfenster war beschlagen, es ließ sich nicht kippen, er öffnete es weit. Winterluft fuhr in seine Pyjamaärmel, in den Kragen, über sein Gesicht, roch schal nach Kohleofen und Schnee, eine Gänsehaut wanderte unter seinen Haaren hindurch in den Nacken und weiter den Rücken hinab.
Auf der Straße schabte ein Mann mit einem Eiskratzer Schnee von seinem Auto, das Plastik erzeugte schmerzhaft hohe Töne auf dem Glas. Die Bewegungen des Mannes wurden schneller, den Mantel hatte er nicht zugeknöpft, Schnee sammelte sich in den braunen Falten seines Anzugs. Als der Mann es bemerkte, warf er den Schaber weg, klopfte die Falten aus und schrie laut »Scheiße«.
Er schloss das Fenster, der Boden der Dusche war nass, das Bad roch noch leicht nach Zitrone. Er stellte sich unter den Duschkopf, bevor er das Wasser aufdrehte, »jeder Tropfen kostet«, sagte Mutter in seinem Kopf, er biss die Zähne zusammen. Es gab kein Bild für heute, er sah zu Boden, drehte langsam den Hahn auf, wartete. Er konnte nicht fahren. Die plötzliche Kälte presste einen Laut aus ihm heraus, hell und keuchend. Ruckartig sogen seine Lungenflügel Luft ein, stießen aus, sogen ein. Die Wärme kam langsam, er legte den Kopf in den Nacken, Wasser floss über sein Gesicht. Er könnte die Lampe im Flur säubern, das Schalental ausfegen, die Insektenschatten wegwischen. Die Seife war trocken, Frau Potulski hatte sie nicht benutzt. Er könnte die Leiter holen, die Glasschale abschrauben, sie zum Mülleimer tragen, nein. Er wusch seine Haare, auch wenn nicht Samstag war, die Seife brannte in seinen Augen. Er könnte eine Plastiktüte mitnehmen, sie in die Tasche seiner Cordhose stecken, die Plastiktüte über das Schalental ziehen, alles ausschütten und mit einem feuchten Lappen die Reste aufnehmen.
Er brüllte auf. Brüllte, denn der Wasserstrahl, der die Seife zwischen den Schulterblättern wegspülte, wurde kalt, plötzlich kalt, die letzten warmen Tropfen rannen noch über seinen Steiß. Er sprang nach vorne, sein Knie schlug dumpf gegen die Kacheln. »Frau Potulski« – das warme Wasser – »Frau Potulski.« Sie musste in der Küche das warme Wasser aufgedreht haben. »Frau Potulski« prallte gegen die nassen Kacheln und zurück in die Dusche und wurde unter Tropfen begraben. Er tastete nach dem Duschkopf, wollte ihn aus der Halterung ziehen, auf die Wand richten, das Wasser wurde wärmer. Die Seife war ihm aus der Hand gefallen, sie lag auf dem Abfluss.
Frau Potulski streckte ihm eine Kehrschaufel entgegen, als er aus dem Bad kam, die Kehrschaufel gefüllt mit Staubflusen.
»Das war nur unter dem Sofa.«
Er antwortete nicht, sah nur auf die Schaufel hinab, wolliggrau, mit Krümeln dazwischen. Verwahrlost, er konnte sich genau an den Moment erinnern, an dem ihm klargeworden war, das es das war, was mit ihm geschehen würde, wenn er nicht achtgab.
Er konnte sich an die glänzenden, eiweißfarbenen Warmhalteschalen vom Imbiss erinnern, die er auf dem Couchtisch zu einem Turm gestapelt hatte. An die Mineralwasserflaschen, neun waren es, die er neben der Armlehne der Couch zu einem ordentlichen Quadrat zusammengestellt hatte. Eine nach der anderen hatte er aus dem Vorratsraum neben der Terrassentür geholt. Als der Kasten leer war, hatte er sie mit Leitungswasser aus dem Gästebad aufgefüllt. Er nahm nie die gleiche Flasche zweimal, erst benutzte er reihum die Außenseiten des Quadrates, dann die in der Mitte. Die Flasche in der Mitte war ihm aus unerfindlichen Gründen am liebsten gewesen.
Abends hatte er ferngesehen mit den Füßen auf ihrem Couchtisch, die Fersen auf der Fernsehzeitung. Aneurysma, Aussackung, es juckte unter der Schädeldecke, wenn er die Worte dachte, Aneurysma, Aussackung. In die Küche war er nur noch gegangen, um sich vor dem Dienst Kaffee zu kochen. Er wartete neben der Maschine, sah in den Garten hinaus, bis er durchgelaufen war. Die Tassen in der Spüle, die aus den Tagen stammten, an denen es noch Milch gegeben hatte, wurden allmählich von einer pulvrig orangen Schimmelschicht überzogen. Die neueren, aus denen er den Kaffee schwarz getrunken hatte, verfärbten sich erst modrig grün und trockneten dann aus.
Er kniff die Lider zusammen, es war sehr hell.
»Wo sind die Vorhänge?«
»In der Schmutzwäschetruhe«, antwortete sie, schon auf dem Weg in die Küche. Er ging ins Schlafzimmer, sich anziehen, sein Frühstücksgeschirr hatte sie abgeholt, das Bett gemacht, das Fenster geöffnet.
Die Leiter war schwerer als in seiner Erinnerung. Es war auch höher, er musste hinauf bis auf die letzte Sprosse, und zwischen der letzten Sprosse und dem Schalental verblieb viel Luft. Mit den Händen zog er sich, die Sprossen fest umklammernd, mit den Füßen stieß er sich vom Boden ab. An einen Käfer, der tastend einen Grashalm hinaufkletterte, musste er denken, die Leiter kippelte bei jedem Zug, von einer Seite auf die andere. Er sah hinab auf die Dielen, gestern war ihm schwarz geworden, die Dielen sahen hart aus, hart und uneben. Er war ohnmächtig geworden auf dem Bahnsteig, die Leiter kippelte, von einer Seite auf die andere. Das Schalental kam langsam näher, mit den Händen zog er sich, mit den Füßen stieß er sich ab, bis es keine Sprossen mehr gab, um sich zu ziehen, und nichts da, um sich festzuhalten.
Vorsichtig drehte er das Glas in seinem Gewinde, als er fühlte, dass es lockerer wurde, fasste er mit beiden Händen zu, drehte langsamer, bis er die Schale in den Fingern hielt. Sie waren hellbraun und gleichzeitig grau, und es war viel Pulver aus ihnen geworden, und der Rest, Beine, Flügel, Panzer, Köpfe, war sehr leicht. Er musste sie abstellen, um die Tüte aus der Hosentasche zu ziehen, vorsichtig abstellen, nicht hineinatmen, nicht schräg halten, sie abstellen, oben auf der Leiter, er tastete mit dem Fuß nach unten, er wollte hinab, eine Sprosse weiter runter, dann könnte er das Glas abstellen, die Plastiktüte aus der Tasche ziehen – sie stieben auf. Wirbelten, kreisten anmutig, einzelne Flügel, graubraune weißgeäderte Blütenblätter, ekelerregend leicht, eine sich ausdehnende braunpudrige Wolke. »Nicht einatmen«, dachte er, »nicht einatmen.«
Er berührte mit den Fingern die Rücken von Meyers Konversationslexikon , er berührte jeden einzelnen Band, danach die gesammelten Werke von Goethe, Schiller und Shakespeare. Er hatte nur wenige Bücher behalten, noch zwei oder drei Reiseführer und ebenso viele Bildbände. Das Bücherregal hatte sie schon gewischt, die Bretter waren fettigsauber und rochen nach Möbelpolitur. Seine Finger stoppten beim Faust , zogen ihn ein Stück hervor, stießen ihn zurück, Faust hinterließ eine Staubspur. Der Staub fühlte sich rau an, er fuhr mit den Fingerkuppen das Regalbrett entlang, zog vier Streifen in die glänzende Oberfläche. Schließlich nahm er einen der Bildbände heraus. Der Bildband war recht neu, REDUZIERT: 4,90!, klebte noch immer rot auf dem Einband. »Pommern – die unvergessene Heimat in 216 historischen Großfotografien« stand quer über dem schwarz-weißen Rathaus von Kolberg. Er hatte den Bildband gekauft und zu den anderen ins Regal gestellt, angesehen hatte er ihn nicht.
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