Ganz hinten, zum letzten Mal beim Umzug benutzt, lag zusammengesunken sein schwarzer Kulturbeutel. Er nahm ihn vorsichtig aus dem Regal, der Reißverschluss leistete keinen Widerstand, der Beutel war leer. Die Zahnpasta ließ er liegen, vielleicht hatte sie keine dabei; die rote Plastikdose verschwand zuerst in dem Beutel, dann seine Zahnbürste, die Rasierseife, Pinsel, Seborin, Vaseline, Rasierwasser, die Nivea-Dose wischte er mit Toilettenpapier ab, sie blieb im Regal, ebenso die ungeöffnete Kamillenhandcreme, die Watte und die Q-Tips.
Sie war in der Küche, drehte sich zu ihm um, als er hereinkam, deutete auf die Regenfotos an der Wäscheleine.
»Alles ist hässlich«, sagte sie.
Ein paar sandige Kartoffeln lagen auf einer Zeitungsseite auf der Arbeitsplatte.
»Ist die von heute«, fragte er.
Sie schüttelte den Kopf, öffnete den Hängeschrank über der Arbeitsplatte, stellte sich auf Zehenspitzen und spähte hinein.
»Was suchen Sie?«
»Lorbeer«, antwortete sie.
»Habe ich nicht. Habe ich noch nie gebraucht«, er lehnte sich gegen den Türrahmen, sie könnte fragen, und er könnte ihr reichen, was sie benötigte.
»Setzen Sie sich«, Frau Potulski zeigte auf einen seiner Küchenstühle, »Sie stören.«
Er verschränkte die Hände auf der Wolldecke, um nicht aufzustehen, sobald sie sich suchend nach etwas umsah. Sie nahm ein Glas mit löslicher Brühe aus dem Schrank, drehte den grünen Plastikdeckel auf, sah hinein, roch an der Öffnung, roch ein Mal, roch zwei Mal.
»Die Brühe ist neu«, sagte er, sie stellte das Glas auf die Arbeitsplatte. Die Wand über dem Gasherd war vom Fett bräunlich verfärbt, seine Wohnung anders als sonst. Seine Wohnung war verwahrlost.
»Schön«, sagte sie, deutete auf den Kalender an der Wand über dem Küchentisch, Almhütte mit rosa Kirschblüten, die Baumstämme nicht im Bild, nur die Blüten rechts und links. Er hatte ihn geschenkt bekommen, hatte keine Lust gehabt, dem Apotheker zu erklären, dass er ihn nicht wollte. Hatte genickt, als der Apotheker ihn lächelnd zu der Ischiassalbe in die Tüte schob. Schweigend hatte er die Tüte genommen und war gegangen, »Frohes Neues Jahr«, hatte der Apotheker hinter ihm hergerufen.
Den Kalender wegzuwerfen, war Verschwendung. Er hatte lange gezögert, das Pedal des Mülleimers hinabgetreten, den Kalender in der Hand, der Abfall roch schimmlig. Er hatte vorgehabt, ihn zusammenzurollen, ihn auf die feuchten Teebeutel, auf die knirschenden Eierschalen zu drücken, er hatte den Fuß vom Pedal genommen, Wegwerfen war Verschwendung. Eine Weile dachte er darüber nach, das Bild abzuschneiden, nur den Kalender aufzuhängen, aber die Öse war oben am Bild befestigt, er hätte sie abschneiden und an den unteren Teil kleben müssen, das war zu umständlich.
»Sie kommen aus Rheinsberg«, begann er.
»Aus Poznań eigentlich, aber gerade komme ich aus Rheinsberg«, Jana Potulski lächelte, sie nahm ein Bund Suppengrün aus der Schublade seines Kühlschranks.
»Wohin ist die Familie, bei der Sie arbeiten, gefahren?«
Ihre Fingernägel lösten die knisternde Haut einer Zwiebel, mit zwei raschen Schnitten entfernte sie Strunk und Spitze. »In die Türkei.«
»Und wann?«
Sie nahm ein Holzbrett aus dem Küchenschrank, »wann was?«, legte die Zwiebel darauf und halbierte sie.
»Wann ist die Familie gefahren?«
»Vorgestern.«
»Und Sie?«
»Gestern«, sie schnitt die Zwiebelhälfte in Streifen.
»Warum erst gestern?«
Aus den Streifen wurden kleine Würfel.
»Ich habe noch ein Mal saubergemacht, und dann habe ich den Schlüssel zu den Nachbarn gebracht«, sie schob die Würfel beiseite.
»Und die Familie besteht aus?«, er machte eine Pause.
»Eltern und zwei Jungen«, sie nahm den Sparschäler aus der Schublade, griff nach der ersten Kartoffel.
»Und die heißen«, fragte er.
»Wer?«
»Die Jungen.«
»Leonard und Matthias«, sie antwortete ohne Zögern, als sei sie sich sicher.
»Wie alt?«
»Fast zehn, Matthias etwas jünger«, sie nahm die nächste Kartoffel.
Sie musste die Geschichte vorbereitet haben, er hatte einen Fehler gemacht, er hätte gleich fragen sollen.
»Wie ist Ihr normaler Tagesablauf bei der Familie?«
»Ich steh auf und arbeite und arbeite und arbeite und lege mich schlafen.«
»Sind Sie sozialversichert?«
Das Messer unter der Kartoffelschale wurde langsamer.
»Wie meinen Sie das«, fragte sie vorsichtig, sie sah ihn nicht an.
»Arbeiten Sie schwarz? Illegal?«
»Nein, aber ich arbeite, bis ich schwarz werde«, sie lachte kurz auf, sie log.
»Und wohin ist die Familie gefahren?«
»In die Türkei, das haben Sie schon gefragt.«
»Ja, und jetzt frage ich Sie noch mal.«
Ihre Hände legten die fertig geschälte Kartoffel in den Schalenhaufen auf der Arbeitsplatte, sie stemmte eine Hand in die Hüfte, beschmierte ihr schwarzes T-Shirt mit Erde und Kartoffelstärke.
»Ist das ein Verhör?«
Sie starrte ihn an, es war anstrengend, sich nicht zu rühren, ihren Blick zu erwidern. Sie wandte sich zuerst ab, nahm eine Kartoffel, still war es, er konnte hören, wie der Schäler unter die Schale fuhr, sie ablöste.
»Was kochen Sie denn«, fragte er schließlich.
»Kartoffelsuppe.«
Sie drehte sich nicht um, schälte ruhig weiter, »mit Zwiebeln und getrockneten Pilzen«, sie deutete mit dem Kinn auf ein Tütchen, das auf der Arbeitsplatte lag, »wenn die Pilze noch gut sind.«
»Pommersche Kartoffelsuppe«, er nickte zufrieden, »hat meine Mutter auch gekocht.«
»Wenn ich sie koche, heißt sie polnische Kartoffelsuppe«, sie legte die Kartoffeln ins Spülbecken, verschloss den Abfluss mit dem Stöpsel und drehte den Wasserhahn auf.
Er konnte nicht essen. Seine Hand zitterte, er fühlte Frau Potulskis Blick auf ihr, auf dem vollen Löffel, dickflüssige Kartoffelsuppe tropfte auf die Tischdecke, versickerte langsam in der Wolle, dampfte noch ein wenig. Er traute sich nicht zu pusten, wusste, er würde sich die Zunge verbrennen, er ließ den Löffel zurücksinken in den Suppenteller.
»Schmeckt es?«
»Es tut seinen Dienst«, antwortete er.
»Ihre Haare müssen geschnitten werden«, sagte sie.
Seine Hand fasste augenblicklich nach seinem Kopf, dorthin, wo ihr Blick ruhte, fuhr die borstigen Haare im Nacken entlang, strich sie an den Schläfen nach hinten.
»Ich kann das machen.«
Sie aß einfach weiter. Er ließ die Hand sinken, er ging regelmäßig zum Friseur. Meist auf dem Heimweg vom Fotografieren, wenn er zufällig an einem Laden vorbeikam, er suchte immer die Friseurin aus, die am ältesten aussah, »kürzen«, sagte er einfach, meistens verstanden sie ihn.
»Ich habe oft geschnitten, ich habe gearbeitet als Friseurin, jahrelang«, Jana Potulski lächelte. »Sie essen gar nicht.«
»Nein«, er schüttelte den Kopf, »danke.«
»Sie haben keinen Fernseher«, sie fragte nicht, sie stellte fest, sie hatte sich umgesehen, hatte vermerkt, was da war und was nicht. Sie sah in den Flur.
»Im Wohnzimmer ist auch keiner«, sagte er, pustete tief über den Teller gebeugt, schob den Löffel in den Mund, als sie sich wieder dem Tisch zuwandte. Die Suppe war gut.
»Ich habe nichts, was sich zu stehlen lohnt«, sagte er mit vollem Mund, nickte zufrieden, sie hatte eine Augenbraue hochgezogen. »Keinen Fernseher, keinen Schmuck, kein Bargeld im Haus, keine silbernen Löffel.« Hochgezogen zu einem spitzen Dreieck, sie konnte eine einzelne Braue hochziehen, er konnte das nicht, obwohl er geübt hatte, als Polizeikadett vor dem Spiegel. »Nichts«, er nickte nochmals bekräftigend, er war aufgestanden. Sie sah erstaunt zu ihm auf, die Stirn in Falten geschoben.
Den grünen Samtsessel benutzte er sonst nicht, der Sessel war zu weich. Wenn er die aufgeschlagene Zeitung sinken ließ, konnte er durch den Flur die verschlossene Badezimmertür sehen.
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