»Sagen Sie Jana zu mir«, sie lächelte.
»Aber ich kann nicht Jana sagen, und Sie sagen Sie zu mir«, protestierte der alte Mann. Frau Potulski lächelte weiter.
»Sie können Jana und Sie sagen«, sagte sie. »Wie heißen Sie mit Vornamen?«
»Hermann«, sagte der alte Mann, er beschloss, sie weiter Frau Potulski zu nennen, zumindest in Gedanken.
Sie ging durch den Flur, wandte sich nach rechts, hinterließ schwarznasse Linien auf den Dielen, auf dem weißen Linoleum.
»Das ist die Küche«, sagte er überflüssigerweise, als sie mit der Hand über die weiße Wolldecke des Küchentischs fuhr, mit der Handfläche die Brotkrumen – zwei Mettwurst, zwei Schmelzkäse – an der Tischkante zusammenfegte und sie mit der anderen Handfläche auffing. Ihre Finger strichen über die hellbeige Arbeitsplatte, nahmen das Messer, mit dem er die Brote geschmiert hatte, vom Rand der Spüle und legten es behutsam in das Becken. Frau Potulski öffnete den Kühlschrank, sah kurz hinein, ebenso in die Hängeschränke, glitt mit den Fingern die Goldränder der Tellerstapel hinab, ihr Gesicht unbewegt, ihr Urteil über das Vorgefundene nicht erkennbar.
»Und dort?«, sie zeigte auf die kleine weiß lackierte Tür neben der Spüle, »was ist dort?«
In der ersten Woche in Berlin hatte er es mit Saufen versucht. Dienstag, vierzehn Uhr sechsundzwanzig war genau richtig, um damit anzufangen, entschied er. Er hatte eine Flasche Korn aus dem Supermarkt mitgebracht, Korn war richtig, ein Glas zu benutzen erschien ihm falsch. Er hatte sich an den Küchentisch gesetzt, das Radio angestellt, Brahms, den mochte er nicht, Brahms war auch richtig.
Er hatte sich gelangweilt. Hatte mit dem Daumennagel Linien in die vereiste Flaschenoberfläche gezogen und mit verschieden großen Schlucken herumprobiert. Viele kleine schnell hintereinander gefielen ihm am besten. Warm war ihm nach einiger Zeit geworden, er saß in einer warmen Hülle. In einer warmen Hülle, an der unten ein Gewicht festgebunden war, und das Gewicht zog ihn hinab.
Er tauchte auf und wusste nicht wo, aber weiße Wolldecke war richtig, da gehörte er hin, und die Flasche war auch richtig, und Musik war irgendwo, und er war aufgetaucht aus Wärme und versunken gewesen, nein betrunken gewesen, und es war dunkel, und er war in seiner Küche, und es brannte kein Licht. Vielleicht war es Zeit zum Weinen, er hatte die Flasche geschüttelt, es war noch etwas übrig. Beim Ansetzen stieß er mit dem Flaschenboden gegen die blaue Pfeffermühle, sie schwankte. Er zielte, die Pfeffermühle fiel über die Tischkante, ihr war egal, was ihm geschah, und das Gewicht zog ihn hinab.
Später hatte er vor dem Herd gelegen, gekrümmt, im Rücken Schmerzen, im Kopf Schmerzen, Pfefferkörner auf dem weißen Linoleum neben seinem Gesicht. Seine Beine sonnenbeschienen, sonnengewärmt, er war in den Flur gekrochen, weg vom Fenster.
Er hatte es in den folgenden Tagen weiter versucht, mit Whisky, mit Wodka, doch Saufen blieb Langeweile und Wegtreten und nichts dazwischen.
Die Dunkelkammer hatte er in die Speisekammer neben der Spüle eingebaut, Abseite, nannte sie die Maklerin bei der Wohnungsbesichtigung. Er hatte das längliche Fenster mit schwarzer Folie verklebt, einen Folienvorhang vor die Tür genagelt, hatte Leisten rechts und links in die Wand gedübelt, eine Spanplatte zurechtgesägt und auf die Leisten gelegt, Regalbretter darüber befestigt. Er hatte den neuen Belichter aus dem Karton genommen und ihn auf die Spanplatte gestellt, die Entwicklerschalen daneben, die Flaschen ins Regal geräumt, auch das Fotopapier, auf das er lange hatte warten müssen. Danach war er ins Bett gekrochen, die Knie zittrig, die Handgelenke geschwollen und schmerzend.
»Das ist die Dunkelkammer«, er schob Frau Potulski ein wenig zur Seite, griff an ihr vorbei, drehte den Schlüssel und zog ihn ab. »Da drin entwickle ich meine Bilder«, er steckte den Schlüssel in die Hosentasche, »da darf kein Licht rein, da darf niemand rein.«
Frau Potulski sah zum Fenster, musterte die fest gespannte Wäscheleine, an der die Regenfotos hingen, und zuckte mit den Achseln. Sie ging in den Flur zurück, er blieb dicht hinter ihr. Sie wandte sich nach links, schaltete das Licht im Wohnzimmer ein.
»Was ist das«, fragte sie und deutete auf die Pappschuber, die sich an der Wand hochstapelten.
Er brauchte sechs Schuber pro Jahr, je einen für zwei Monate. Er bestellte sie immer zur Weihnachtszeit, als Sonderangebot, fünf musste er bezahlen, den sechsten bekam man umsonst. Es waren Kassetten aus schwarzer Pappe mit einem Schubfach zum Herausziehen. Vorn hatten sie ein kleines Sichtfenster, bei den älteren Kassetten aus glänzendem Metall, bei den neueren aus schwarzem Kunststoff. Er beschriftete die Sichtfenster nicht. Hüfthoch stapelten sie sich an der kurzen Seite des Wohnzimmers, mehr als sechzig waren es, dessen war er sich sicher, bei sechzig hatte er aufgehört nachzurechnen.
»Fotos«, antwortete er, »sehen Sie«, er zeigte auf das Sofa, »sehen Sie, es ist viel zu klein.«
»Das reicht für mich«, sie drückte mit der Hand prüfend das braune Polster ein, nickte zufrieden.
Breitbeinig stellte sie sich vor die rote Stehlampe, zog an der beigen Seidenkordel, eine der Birnen ging an, sie sah unter den Schirm.
»Die anderen kaputt?«
Er nahm ihr die Kordel aus der Hand, zog, zwei Birnen, zog noch mal, drei Birnen, zog noch mal, alle aus. Bei jedem Zug nickte sie wie ein kleines Mädchen, dem was beigebracht wird, »gut«, sagte sie, »gut.«
»Sie müssen Ihre Schuhe ausziehen«, erwiderte er, »Sie machen die Dielen schmutzig«, er zeigte auf die schwarzen Rhomben.
Sie kam auf Socken wieder, stellte behutsam die blaue Tasche neben das Sofa.
»Frau Potulski«, sagte er, so laut er konnte, »Frau Potulski, Sie können nicht –«
»Jana, nicht Frau Potulski, Jana bitte«, sie lächelte, »haben Sie ein Telefon?«
Er nickte.
»Darf ich telefonieren? Meine Schwester anrufen?«
»Ja«, sagte er schnell, »ja natürlich, aber Sie können nicht auf dem Sofa –«
»Wegen meinem Pass, ich muss wegen meinem Pass anrufen, verstehen Sie«, sie machte eine kurze Pause, »verstehen Sie, Hermann? Ich muss anrufen, damit meine Schwester einen neuen Pass schickt.«
»Ja, natürlich versteh ich das«, sagte er ungeduldig, »das Telefon ist im Wohnzimmer, bitte.«
Er wartete, bis sie den Hörer abnahm, bis er leise das Freizeichen hören konnte, und ging ins Bad. Sie würde polnisch sprechen, er würde sie nicht verstehen. Er schloss die Tür ab, das tat er sonst nicht, kontrollierte zuerst das Toilettenbecken, es war weiß, sauber. Die Badewanne war um den Abfluss herum braun verklebt, graue Haare hingen im Sieb. Im Waschbecken eingetrocknete Fließspuren weißer Zahnpasta, er drehte den Wasserhahn auf, so dass ein dünnes Rinnsaal floss, das sie nicht hören konnte. Schwamm und Scheuermilch waren in dem Schränkchen unter dem Waschbecken, sein rechter Ärmel rutschte beim Putzen immer wieder runter, egal, wie hoch er ihn schob, sein Pulloverbündchen und die Hemdmanschette sogen sich mit Wasser voll. Er wurde wütend, er putzte wegen dieser Person sein Bad, wegen dieser Person, die er nicht eingeladen hatte. Die einfach mitgekommen war. Nein, die ihn einfach mit nach Hause genommen hatte, ihn in sein Zuhause mitgenommen hatte, als wäre es ihres. Er versuchte, den Pulloverärmel auszuwringen, doch es kamen nur einzelne Tropfen, er stampfte, das tat im Knöchel weh.
Auf dem Spiegel winzige Zahnpastapunkte, der Glasreiniger war unter der Spüle in der Küche, er müsste am Wohnzimmer vorbei. Er stellte den Zahnputzbecher und die rote Plastikdose, in der er über Nacht seine Brücke aufbewahrte, zurück auf den Waschbeckenrand. In dem Regal neben dem Waschbecken lagen hellgrüne Rasierseife, bartstoppelbeklebt, ein zerzauster Pinsel, Old Spice After Shave, die Seborin-Flasche, ein weiß-gelber Vaselinetiegel, der Deckel fettverschmiert, eine eingestaubte Nivea-Dose, Q-Tips, ein Wattepaket.
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