»Sie hat weder Papiere noch Geld, sagt sie«, rief er ihnen entgegen.
Plötzlich stemmte die Frau ihre weißen Turnschuhe in den vereisten Untergrund, warf sich nach hinten, riss den Arm hoch, einen Moment lang war nur noch beiger Jackenärmel zwischen den Schaffnerfingern.
»Hiergeblieben«, der Schaffner packte ihren anderen Arm, ihren Kopf, drückte ihn auf ihre Brust, in den Pelzkragen ihrer Jacke, eine blaue Tasche flog durch die Luft.
Die Frau gab auf. Ihr Gesicht war gerötet, das Haar zerzaust, sprödes quittengelbes Haar mit dunklem Streifen am Ansatz.
»Alles geraubt«, sagte sie außer Atem, »alles weggenommen«, sie schüttelte den Kopf, die breiten Lippen zusammengepresst.
Er schätzte sie auf Anfang fünfzig. Sie hob die blaue Tasche auf und drückte sie mit beiden Händen vor ihren Bauch, auf die Tasche war ein goldener Anker genäht.
»Wie heißen Sie?«, fragte die Schaffnerin und lächelte nicht.
»Potulski. Jana Potulski.«
»Können Sie sich ausweisen?«
»Nein, ich sage doch, alles geraubt«, die Frau seufzte, ihre dunklen Augen musterten das adrette Blau-Rot der Bahnuniform.
»Und der?«, der Schaffner sah fragend die Schaffnerin an.
»Keine Fahrkarte«, antwortete sie.
»Kommen Sie, junger Mann.«
Er fühlte, wie sich die Schaffnerhand um seinen rechten Arm legte, sein Magen war plötzlich Übelkeit, weiche Übelkeit, sich ausdehnende Übelkeit. Speichel lief in seinem Mund zusammen, Speichel so flüssig wie Wasser, sein Mund war ein Springbrunnen, ein überlaufender Springbrunnen, er presste die Lippen zusammen. Etwas Hartes drückte gegen seine Schläfen, »Vorsicht«, hörte er die Schaffnerin rufen, ein harter Balken drückte sich in seinen Rücken. Der Tag wurde schwarz, er zog die Augenlider hoch, es blieb schwarz. »Achtung«, rief jemand und »Scheiße«, und das Kratzen von Füßen, von Füßen, die auf glattgetretenem Schnee Halt suchten. Aber das war hinter seinen Lidern, und seine Lider waren eine Mauer, und hinter der Mauer war er sicher. Die Übelkeit zog sich zusammen, langsam, zu einem Klumpen, einem kleinen Klumpen, den man in die Hand nehmen und hochwerfen und auffangen konnte wie einen Ball. Er saß auf einer Bank, einer feuchten Bank, und neben ihm saß die Schaffnerin. »Das Scheißweib ist abgehauen«, sagte sie und »Fühlen Sie sich besser?« und »Brauchen Sie einen Arzt?«
Er schüttelte den Kopf, »nein, danke«, und Speichel lief aus seinem Mund und tropfte auf den Mantel.
Einen Moment saßen sie schweigend nebeneinander, stießen Atemwolken aus, er tastete nach seiner Brieftasche, sie war noch da. Der Schaffner kam wieder. »Weg«, sagte er.
»Stimmen Sie der Aufnahme in das Schwarzfahrerregister der Deutschen Bahn zu«, fragte die Schaffnerin. »Im Falle Ihrer Zustimmung würden wir von einer Strafanzeige absehen«, ihre Ellbogen hatte sie auf die hellgraue Platte des Schreibtisches gestützt, »Sie sind noch Ersttäter«, setzte sie hinzu, bei »Ersttäter« lächelte sie.
Er saß auf einem der schmalen Besucherstühle, schwarz mit uniformblauen Polstern, er nickte.
»Gut«, ihr Lächeln wurde breiter, als habe er ihr eine Freude gemacht, »dann benötige ich Ihren Ausweis.« Ihr linker oberer Schneidezahn stand ein wenig vor, sie wandte sich dem Computermonitor zu, tippte, ihr Schreibtisch leer, nicht ein Blatt Papier war zu sehen, nur eine Grünpflanze, die in braunen Klümpchen statt in Erde wuchs. Sie blickte auf, »der Ausweis?«
Er sah hinab, sah zu, wie seine behandschuhten Finger einen Knopf nach dem anderen durch die engen Ösen schoben, wie sie die Mantelaufschläge öffneten, seine Rechte tastete nach dem Quadrat. Kalte Luft drang mit ihr vor, die aufgestaute Wärme entwich, er fröstelte, als er die Brieftasche herauszog.
Es dauerte, bis er den Ausweis aus seinem lächerlich engen Fach in der Brieftasche gezerrt hatte, ihre Finger warteten auf der Tastatur, sie trug keinen Ehering. Das Telefon klingelte, sie bat ihn nicht um Entschuldigung, als sie nach dem Hörer griff. »Customer point drei«, meldete sie sich lächelnd.
Er rührte sich nicht.
»Ausweis«, formte sie tonlos mit den Lippen. Er legte ihn vor sich auf die Tischplatte, so dass sie ihn sehen konnte. Sie winkte mit den Fingern, näher zu mir, langsam schob er den Ausweis über das Furnier, bis zur Tischmitte, dort ließ er ihn liegen, gewellt und mit abgeknickten Ecken. Sie musste nur den Arm ausstrecken, sie nickte stumm vor sich hin, betrachtete ihre Fingernägel, den Hörer zwischen Schulter und Ohr eingeklemmt. Er überlegte, ob er aufstehen, den Ausweis einstecken und leise gehen sollte. »Hab ich auch verstanden«, sie nickte heftig, der eingeklemmte Hörer kam kurz ins Rutschen, »P wie Peter, O wie Otto, T wie Theodor, U wie Ulrich«, sie brach ab, lauschte kurz, »ja genau.«
Die Frau im Zeitschriftenladen war überrascht. Der Bus nach Berlin fahre selten und brauche doppelt so lange und koste fast das Gleiche wie mit der Bahn, antwortete sie. Die Haltestelle sei vor der Post, er befände sich aber gerade am Bahnhof, am Hauptbahnhof von Frankfurt/Oder, er könne auch den Zug nehmen. Ja, vor der Post, aber wie gesagt.
Es regnete, als er aus dem Bahnhofsgebäude trat, die akkuraten Linien und Kanten, mit denen der Schnee die Dächer nachgezeichnet hatte, waren ins Rutschen gekommen, hingen in der Mitte durch in weichen Bögen. Frankfurt/Oder würde er nicht fotografieren, jetzt nicht mehr, vor dem Bahnhof warteten Taxis, er beschloss, mit dem Taxi zur Post zu fahren.
Als er auf den ersten Wagen zuging, sah er den Fahrer durch die Windschutzscheibe hastig die Zeitung zusammenfalten und den Deckel auf eine Thermoskanne schrauben. Er dachte an den Tee in seiner Tasche, stieg vorsichtig über den grauen Schneewall zwischen Bürgersteig und Fahrbahn und klopfte an das Seitenfenster. Der Fahrer stieg nicht aus, der Fahrer öffnete die Beifahrertür von innen, »immer rein, immer rein«, sagte er.
Der alte Mann wäre lieber hinten eingestiegen, früher war man in ein Taxi immer hinten eingestiegen, auch wenn man allein fuhr. Er zog die Beifahrertür weiter auf und reichte dem Fahrer die Fototasche, der legte sie achtlos auf den Rücksitz.
Er ignorierte die ausgestreckte Hand, hielt sich an Türöffnung und Kopfstütze fest, ließ sich langsam rückwärts hinab, bis er den Sitz unter sich fühlte. Seine Beine waren noch draußen, die Beine hatte er nachziehen wollen, sein Schuh blieb hängen.
Er versuchte es noch einmal, hob das linke Knie, beschrieb mit dem Oberschenkel einen Halbkreis in Richtung Türöffnung, sein Schuh blieb hängen. Dort, wo die Sohle vorstand, wo sie mit dem Oberleder vernäht war, blieb sie hängen an der schwarzen Gummifütterung der Tür. Er versuchte das Bein höher zu heben, sein Oberschenkel begann zu zittern, höher ging nicht.
»Geht’s«, fragte der Fahrer.
»Ja«, antwortete er, ließ das Bein wieder sinken, Schneematsch quoll unter der Sohle hervor. Er schob beide Hände unter den linken Oberschenkel, verschränkte die Finger, zählte tonlos bis drei, zog und hob gleichzeitig erst das linke und dann das rechte Bein ins Wageninnere.
»Zur Post.« Er wollte die Tür zuknallen, doch dafür reichte es nicht, sie schloss mit einem Schmatzen. Sein Körper wurde gegen die Tür gedrückt, als sie vom Bahnhofsplatz fuhren, gegen die Tür gedrückt, wie ein Sack, gefüllt mit irgendwas, er tastete nach dem Haltegriff über dem Fenster. Bis zur Pensionierung war er zwei Mal die Woche schwimmen gegangen. Zwei Mal die Woche hatte er vor dem Dienst frierend auf dem Sprungblock gestanden, hatte tief eingeatmet, hatte Finger auf Fußspitzen gepresst und war nach vorn geschnellt. Zwanzig Bahnen, zwanzig Mal die Linie entlang, die seine von den anderen Bahnen trennte, schwarz und mit einem T-Balken am Ende. Olympiabahnen, zehn Brust, zehn Kraul war er geschwommen, neunzehn Mal hatte er gewendet, beim T-Balken, neunzehn Mal vor dem Dienst.
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