Der alte Mann lehnte sich in das Polster, als der Zug anfuhr. Es roch nach kalter Asche im Abteil, sobald er sich vorbeugte, stärker. Der Aschenbecher in der rechten Armlehne stand einen Spalt offen, braun verfärbte Filterenden ragten heraus, der Aschenbecher war so voll, dass er nicht mehr schloss. Er versuchte die Kippen mit den Fingerspitzen hineinzudrücken, die Stummel gaben nach, Asche staubte auf seine Hose. Ekel zog ihn zurück, er würde sich beschweren, beim Schaffner beschweren. Er hatte keine Fahrkarte. Der Zug rollte langsam am alten Depot vorbei, rund und mit eingeschlagenen Scheiben und Schmierereien auf den teerbestrichenen Holzwänden. Die Schmierereien seien Buchstaben, hatte er in der Zeitung gelesen, er konnte keine Buchstaben erkennen. Das Schienenmuster verrostet, sah aus, wie für Kinder zum Spielen gedacht. Er könnte den Sitz gegenüber nehmen, oder ein anderes Abteil. Er hatte immer nur im Freien geraucht, seine Frau hatte gesagt, Rauchen verdopple die Hausarbeit.
Seine Frau war schön gewesen, schwanger, als sie einwilligte, ihn zu heiraten, er hätte nie gewagt, sie zu schwängern. Wochen später sagte sie, sie habe es verloren, das ändere nichts, dafür sei es zu spät. Er hatte genickt. Hatte zugesehen, wie sie das Haus mit Möbeln füllte, jeden Morgen ihre Lippen nachzog und beim Frühstück mit einem geübten Messerhieb ihr Ei köpfte. Wie sie ihren Finger anfeuchtete, ehe sie die Seite einer Illustrierten umblätterte. Bei jeder Zeile leise nickte, wenn sie die französischen Vokabeln für den Volkshochschulkurs durchging. Hatte gewartet, doch sie musste mehr verloren haben, denn, gleich wie oft und fest und entschlossen sie es versuchten, in ihr wuchs nichts.
Sie habe nicht geheiratet, um arbeiten zu gehen, sagte sie. Sie war zu Hause geblieben, hatte Kurse besucht, einen Lesezirkel. Bridge gespielt. Wenn er Nacht- oder Frühschicht hatte, hatte er ihr den Frühstückstisch gedeckt, ehe er zum Dienst ging. Mit Eierbecher und Stoffserviette, Letztere zu einem Segel gefaltet. Hatte Marmelade in Schälchen gefüllt, je zwei Käse- und zwei Wurstscheiben aufgerollt und auf einen Teller getan, Butter in kleine Vierecke geschnitten und dazwischengelegt, hatte alles mit Klarsichtfolie überzogen und in den Kühlschrank gestellt. Am Anfang, um ihr eine Freude zu machen, später, damit sie nicht fragte, warum er es unterließ.
Sie kaufte Bücher, ließ Regale anfertigen, dunkel und massiv an der kurzen Seite des Wohnzimmers. Wenn sie ausgingen, lachte sie viel und erzählte von dem Vertreter, der gesagt habe, sie müsse nichts über sich sagen, ein Blick auf ihre Bücher sei eine Offenbarung gewesen. Ihr Haar wurde immer kürzer, begann sich in erzwungenen Drehungen und Wellen zu winden, am Ende färbte sie es braun. Ihr Kinn, keck hatte er es genannt, gerne behutsam mit dem Zeigefinger drübergestrichen, wenn sie ihn ließ, wurde weicher, dehnte sich aus in Richtung Hals. Die wunderbare Wölbung zwischen Auge und Braue kam ins Rutschen. Ihre Wangen verlängerten sich nach unten, hingen in weichen Bögen über die Kinnlinie hinab. Er hörte auf, sie anzusehen, später auch, sie zu berühren. Irgendwann stellte er sich vor die Regale und suchte. Fand nichts außer Menschen im Hotel von Vicki Baum, Nofretete, Kaiserin und Liebende oder Nero, Wahn der Macht . Darunter zwei Bände Nietzsche, ungelesen. Camus mit Lesezeichen auf Seite zwölf. Die anderen bekämen immer den Kuchen und sie nur die Krümel, die übrigblieben, sagte sie, und nachts hörte er sie manchmal weinen.
Einfamilienhäuser und Parzellen mit Datschen zogen vorbei, der Himmel immer noch klar, der Schnee intakt. Vorbei an Gärten mit hartgefrorenen Gemüsebeeten, mit Holzschuppen, mit Apfelbäumen, an denen kleine, saure Winteräpfel hingen, die trotz ihrer roten Backen blass und kränklich aussahen.
Er war heimgekommen vom Dienst. War durch die Terrassentür in den Garten gegangen, denn er hatte gerufen, und sie hatte nicht geantwortet. Still lag sie. Inmitten der feuchten, sich schwerfällig im Wind wölbenden Wäsche, der ächzenden, schwarz lackierten Pfähle, zwischen denen die Leine gespannt war, der hüpfenden Amseln auf dem kurzgemähten Rasen, inmitten der Bienen, Wespen, Hummeln, die um Blüten kreisten, lag sie still. Lag auf der Seite, ein paar Zentimeter neben ihr der bunte Klammerbeutel. Neben dem Klammerbeutel blühten Gänseblümchen. Er war ins Haus zurückgegangen, hatte die Dienstmütze an die Garderobe, die Jacke auf einen Bügel gehängt. Hatte die Kamera geholt.
Die Bücher verschenkte er mitsamt den Regalen an einen Trödler. Der Trödler war zuerst misstrauisch, untersuchte Regale und Bücher mehrmals nach Holzbock und anderem Ungeziefer, ehe er sie abholte.
Der Zug fuhr eine große Kurve, nächster Halt Frankfurt/Oder wurde über den Lautsprecher angesagt, zwei leere Bierdosen, pulvrig graue Zigarettenasche um die Trinköffnung, kippten um, rollten erst langsam und dann immer schneller den Gang hinunter.
Lichtstrahlen schossen durch schnell vorbeiziehende Tannenstämme. Trommelfeuer hatten sie das genannt, als der Zug ihn an Sommermorgenden zur Volksschule nach Stettin fuhr. Lichttrommelfeuer – nicht fotografierbar.
»Die Fahrkarte bitte.« Der Schaffner war eine Frau, einen silbernen Knipser in der rechten Hand, die Linke ein wenig ausgestreckt, auf seine Fahrkarte wartend.
»Der Zug kam zu spät«, sagte der alte Mann.
»Ja, das bedauern wir sehr«, sie lächelte, blond und sehr braun für Februar, »die Fahrkarte bitte.«
»Der Zug kam zu spät«, wiederholte er, seine Hände zitterten, er nahm eine in die andere, damit sie es nicht sah.
Die Schaffnerin nickte. »Ich habe Sie verstanden«, sagte sie laut, jede Silbe einzeln aussprechend, »ich müsste trotzdem Ihre Fahrkarte sehen.«
»Das ist ein Nichtraucherabteil«, sagte er und sah hinab auf den vollen Aschenbecher.
»Ja, ich weiß, unmöglich. Haben Sie eine Fahrkarte?«
»Nein«, er schüttelte den Kopf, »der Zug kam zu spät.«
»Kommen Sie«, die Schaffnerin beugte sich vor, griff nach dem Schulterriemen seiner Tasche.
»Die ist schwer«, sagte der alte Mann und griff ebenso zu, »die gehört mir, das ist mein Eigentum.«
»Sie kriegen sie ja gleich wieder«, die Schaffnerin lächelte, die Schaffnerin war schneller als er. »Ich muss Ihre Personalien aufnehmen«, sie hängte sich den Riemen über das Schulterpolster ihrer Bahnuniform, »Ihren Ausweis haben Sie dabei?«
Er fasste an seine linke Brust, tastete nach der Brieftasche, sie war da, quadratisch und fest unter dem weichen Wollstoff des Mantels. Die Schaffnerin schwankte, als der Zug anhielt, sie hielt sich am Gepäckgitter fest, er hätte sie gern geschubst.
»Kommen Sie«, ihre Hand näherte sich seinem Arm, er zog ihn weg, eine Frau schob die Abteiltür auf, einen blauen Einkaufskorb in der einen Hand, an der anderen ein dunkelhaariges Mädchen hinter sich herziehend. Er sah auf den Boden, schmelzender Schneematsch, wartete, bis sie ausgestiegen waren, ehe er zur Tür ging.
Der Himmel blau und leer, der Regen langsamer als der Regionalexpress, er sah sehr deutlich seine Atemwolke und hinter der Atemwolke Fahrgäste, die alle in eine Richtung gingen, eilig, auf der glattgetretenen Schneeschicht Halt suchend, die Schultern hochgezogen. Nur er blieb stehen, und die Fototasche berührte seinen Handrücken und hing an der Schulter der Schaffnerin.
Die Schaffnerin begann zu winken.
»Hier«, rief sie, ein Mann im Gedränge reagierte, er trug eine Bahnuniform, er kam auf sie zu. Der alte Mann berührte mit der Hand das feste Quadrat unter dem Wollstoff, sie war noch da, in der Innentasche, er war ein Mensch mit Personalausweis und Rechten, versichert und ohne Schulden, er war pensioniert, er war Polizeibeamter. Er kannte das alles. Er hatte eine Uniform getragen, eine richtige, keine blau-rote Bahnuniform. Er hatte Menschen am Arm genommen und neben sich hergeschoben. Er hatte sich Personalausweise zeigen lassen und »Kommen Sie« gesagt. Er kannte das alles. Er hatte seinen Abschied freiwillig eingereicht, die Dienststelle erklärte in seiner Entlassungsurkunde ihr Bedauern. Er kannte sein eigenes Widerstreben, wusste, wie es für den Schaffner aussah, der rasch auf sie zukam. Er kannte die schleppenden Schritte, das zurückstrebende Gewicht der Frau, um deren Oberarm die Hand des Schaffners lag. Die Frau war klein und stämmig, der Schaffner hatte Mühe, sie hinter sich herzuziehen.
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