»Arztbesuch«, fragte der Fahrer.
»Zur Post«, wiederholte der alte Mann, »bitte«, er bemühte sich, gerade zu sitzen, sah nach vorn, die Scheibenwischer verschmierten Regentropfen. Sie hielten an einer roten Ampel, der Fahrer schwieg. Eine Frau mit buntem Anorak und winterbleichem Gesicht überquerte die Straße, sie trug rechts und links volle Aldi-Tüten. Er meinte im Augenwinkel eine Bewegung wahrzunehmen, der Fahrer hatte den Kopf gedreht, musterte ihn. Er fühlte den Blick auf seiner Schulter, seinem schuppenbesetzten Kragen, fühlte, wie der zerknitterte Mantel besehen wurde, der glattgescheuerte Cord über seinen Knien, die Fäden am Hosensaum. Der Schnee hatte weißzackige Linien auf seinen Schuhen hinterlassen, die Schuhspitzen waren zerschrammt, der rechte Schnürsenkel gerissen und wieder verknotet. Verwahrlost, musste der Fahrer denken, er war verwahrlost. Er bemühte sich, gerade zu sitzen, sah nach vorn, an Körper und Kleidung verwahrlost, graues Schneewasser spritzte auf, als sie beschleunigten.
Der Bus fuhr in wenigen Minuten, er stellte sich unter den Windschutz der Haltestelle, der Regen durchnässte seine Hose von den Knien abwärts.
»War es schlimm«, fragte eine Frauenstimme dicht hinter ihm. »War es schlimm?«
Er fuhr herum, Jana Potulski hatte den Kopf schief gelegt, musterte ihn.
»Nein«, er schüttelte den Kopf, »Nein, war nicht schlimm.«
»Ich muss rüber«, sie zeigte mit dem Daumen hinter sich, »über die Grenze.«
»Haben Sie Hunger«, fragte der alte Mann.
Sie zögerte, sah hinab auf ihre nassen Turnschuhe, er öffnete die Schnalle der Fototasche, klappte den Deckel auf, zog die Klarsichttüte mit den Broten heraus.
»Hier«, sagte er und hielt sie vor sie hin, »Mettwurst oder Schmelzkäse?« Die Thermoskanne ließ er in der Tasche, er hatte nur einen Becher, er wollte Becher und Tee nicht aus Höflichkeit ihr überlassen.
»Was machen Sie in Deutschland«, fragte er.
»Arbeiten«, sie biss große Stücke aus dem Mettwurstbrot, »arbeiten in Rheinsberg. Saubermachen.«
»Warum fahren Sie nicht nach Rheinsberg zurück, wenn Ihnen alles gestohlen wurde, wie Sie behaupten?«
»Nein«, sie musterte das Gemisch aus Schneeresten, rötlichem Streusand und flachgetretenen Zigarettenkippen, schien nachzudenken, ihre Wimpern besetzt mit schwarzen Tuscheklümpchen, ein paar hinabgefallen auf die Tränensäcke. »Nein, da ist niemand, die Familie ist auch in den Ferien«, sie sah ihm plötzlich ins Gesicht. »Deswegen habe ich frei«, sie nickte bekräftigend, »keiner da, um ihn sauberzumachen.«
»Haben Sie jemand«, fragte sie.
»Wie meinen Sie?«
»Haben Sie jemand? Sorgt jemand für Sie? Macht sauber, essen, einkaufen, Pflanzen gießen, redet mit Ihnen?«
»Nein«, antwortete er und »ich habe keine Pflanzen.«
»Gut«, sie nickte zufrieden, »so machen wir das.«
»So machen wir was?«
Ihr großer Mund lächelte ruhig.
»Meine Wohnung hat nur zwei Zimmer, ich könnte Sie gar nicht unterbringen.«
»Ein Sofa, Sie haben bestimmt ein Sofa. Ich schlafe auf dem Sofa.«
»Nein. Auf dem Sofa kann man nicht schlafen«, er stockte, »tut mir leid, es ist zu kurz, zu kurz für einen ausgewachsenen Menschen.«
»Ich bin ganz klein«, sie legte die Handfläche auf ihren Scheitel, »klein wie ein Mädchen«, sie lachte, »eins zweiundsechzig«, sie drehte sich zu beiden Seiten, damit er sehen konnte, wie klein sie war, sah hinab auf die Turnschuhe, zu ihm hoch, »sehen Sie, ganz klein.« Ihre Finger waren kurz und gut gepolstert. »Kommen Sie«, sie griff nach seinem Mantelärmel.
»Frau Potulski«, er presste die Lippen aufeinander, seine Mundwinkel zitterten, »Frau Potulski.«
»Es ist nicht für lange«, ihre Hand legte sich auf seinen Unterarm, drückte ihn tröstend, »nicht für lange«, wiederholte sie, »ich rufe meine Schwester an, meine Schwester schickt mir schnell einen neuen Pass.«
»Ich kann«, er zögerte, von ihrem Brot war nur noch die Rinde übrig, die Rinde verschwand in ihrer beigen Jackentasche, sie lächelte, sie hatte erstaunlich weiße Zähne. »Ich kann«, begann er noch mal, »wenn Sie nach Berlin wollen, es sind viele Polen in Berlin. Ich kann, wenn Sie wollen, ich kann Ihnen den Bus bezahlen, aber mitnehmen kann ich Sie nicht.«
Der Regen war wieder zu Schnee geworden, zu schnell kreiselnden Daunenflocken; grau sahen sie aus, kurz bevor sie an der Windschutzscheibe zerschellten, grau und nicht weiß, grau wie wirbelnde Asche. Sie setzte sich auf den Platz neben ihm, sagte »warm« und schüttelte sich wohlig. Er nickte, dachte an den Tee in seiner Tasche.
»Nicht verheiratet«, fragte sie, das breite Gesicht schief gelegt.
»Ich bin Witwer«, er drehte sich weg, zum Fenster. Draußen war es dunkel geworden, in der Scheibe war nur er selbst zu sehen, müde und mit zerknittertem Mantel.
»Und, immer in Berlin?«, ihre Stimme war bemüht freundlich.
»Ob ich immer in Berlin gelebt habe?«, er betonte die beiden letzten Worte. »Nein, seit meine Frau gestorben ist, seitdem wohne ich in Berlin.«
»Wie traurig«, sagte Frau Potulski, »so traurig«, und schüttelte den Kopf.
»Was ist traurig? Dass ich umgezogen bin?«
»Nein. Ihre Frau«, antwortete sie geduldig.
Sein Spiegelbild in der Scheibe zuckte mit schwarzen, wattierten Schultern, die dringend ausgebürstet werden mussten. Er schloss die Augen, als wollte er schlafen.
»Sie sind Rentner«, stellte Frau Potulski fest.
»Pensioniert«, antwortete er knapp.
»Was machen Sie den ganzen Tag«, fragte Frau Potulski.
»Ich fotografiere.« Er ließ die Augen geschlossen, vielleicht hörte sie auf.
»Und was?«
»Ist egal«, er ließ den Kopf ein wenig zur Seite sinken, als ließe die Müdigkeit seine Muskeln erschlaffen.
»Mich würde es interessieren.«
Sie hörte nicht auf.
»Das meine ich nicht. Mir ist egal, was ich fotografiere.«
»Bitte«, sagte er, und weil sie sich vor dem dunklen Flur fürchten konnte, griff er an ihr vorbei nach dem Lichtschalter, doch der Lichtschalter war weg. Nur Raufasertapetenhubbel, er tastete höher, Metall stieß gegen Metall – das Schlüsselbrett –, tastete weiter nach unten, nicht da, nur hubbelige Raufaser, und er wusste, seine Finger zitterten. »Moment, ich mache kurz Licht«, sagte er. »Damit Sie auch was sehen können«, sagte er und schämte sich sogleich. Eine gerade Kante berührte seine Finger, plastikglatt und hart, seine Finger glitten über den Sockel, erleichtert sah er nach oben. Zur Schale aus weißem Glas mit Glühbirne dahinter. Und zwischen Glühbirne und Schalental, und er war sich sicher, er hatte sie noch nie gesehen, Insektenschatten. Gespreizte Flügelpaare und steife Beine, bullige Wespenkörper, dreieckige Motten, zentimeterlange Nachtfalter, in der Mitte so dicht liegend, dass er die einzelnen Tiere nicht mehr ausmachen konnte.
»Bitte«, wiederholte er und trat einen Schritt zurück, so dass zwischen ihm und ihr ausreichend Luft verbleiben würde, wenn sie an ihm vorbeiging, »bitte«, und sie ging an ihm vorbei und lächelte ihm zu und stempelte mit ihren Turnschuhen schwarznasse Rhomben auf seine Dielen und sah nicht hoch.
Nach wenigen Schritten blieb sie im Flur stehen und drehte eine Viertelrunde auf der Stelle. Musterte die Stettiner Hakenterrasse, kupfergestochen, die schwarze Mützenreihe auf dem Garderobenbord, den verfärbten Spiegel, ihr Gesicht verschlossen.
»Stettin«, sagte er und berührte mit der Hand den dunklen Holzrahmen, »dort bin ich geboren«, er fühlte ein kleines, besitzstolzes Lächeln in seinen Mundwinkeln.
»Wir sprechen nicht über den Krieg«, sie drehte sich eine Viertelrunde weiter, ihre Stimme laut und fest.
Er nahm den einzigen freien Bügel von der Garderobenstange, »darf ich«, und streckte ihr die Hand entgegen. Für kurze Zeit war sie ratlos, dann fasste Frau Potulski nach dem Reißverschluss, sie trug ein schwarzes T-Shirt unter der Jacke, er war enttäuscht. Ein schwarzes Herren-T-Shirt, ein wenig zu groß, ihre Brüste darunter enorm.
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