»Sie können doch nirgendwohin«, sagte er, »seien Sie nicht albern«, sagte er.
Sie ging zum Sofa, nahm den Henkel der blauen Tasche, öffnete sie, sah kurz hinein.
»Die Zahnbürste ist im Bad«, sie wollte an ihm vorbei, er griff nach ihr.
Umschloss ihren Oberarm mit der Hand, drückte zu, drückte, so fest er konnte, helles Fleisch quoll zwischen seinen Fingern hervor.
»Kommen Sie«, sagte er und »ich rufe die Polizei.«
Er konnte fühlen, wie der Muskel unter dem weichen Fleisch hart wurde, mühelos entwand sie ihm den Arm.
»Weswegen denn?«
Er zögerte. Breitbeinig stand sie da, das Kinn hochgereckt, sah nicht weg, erwiderte stumm seinen Blick, ihr Mund ruhig verschlossen, Wimperntuscheklumpen auf den Tränensäcken. Schließlich ließ sie die blaue Tasche wieder auf die Dielen sinken.
»Die Brühe ist alle, wir brauchen neue.«
»Wofür brauchen wir Brühe?«
»Zum Kochen«, sie verdrehte die Augen.
»Mittwochs gehe ich nie einkaufen, nur dienstags und freitags.«
»Ich kann allein gehen.«
»Und wie wollen Sie bezahlen?
»Sie könnten mir Geld geben.«
»Nein«, sagte er, »nein.«
Sie ging schnell, rammte bei jedem Schritt die Hacken der Turnschuhe in den Boden. Braune Streusandstreifen verliefen quer über den Gehweg, waren ebenso glattgetreten wie der Schnee. Er wollte neben ihr bleiben, seine Sohlen rutschten, nicht zurückfallen, seine Beine waren steif, die Muskulatur kalt und hart. Unvermittelt blieb sie stehen, die Luft brannte in seinem Rachen. Ein Fahrrad lag quer über dem Bürgersteig, das Vorderrad an einen Laternenpfahl angekettet, das Hinterrad eine Welle, der Fahrradschlauch zur Hälfte von der Felge gerutscht. Der Schnee auf dem Sattel uringelb verfärbt. Er stieß den Lenker mit dem Fuß an, vorsichtig zuerst. Der Lenker schwang zur Seite, zog eine Furche in den Schnee. Er stieß kräftiger zu, das Fahrrad rutschte wenige Zentimeter, schob Schnee vor sich her, er stieß es noch mal, Metall schleifte über Pflastersteine, ihm wurde warm. Er nahm einen Schritt Anlauf, trat gegen den Rahmen, Schmerz in den Zehen, er trat gegen den Sattel, trat noch einmal und noch einmal, bis er das Fahrrad scheppernd beiseitegeschoben hatte, bis das Rücklicht rot zersplittert auf dem Schnee, auf den freigelegten Pflastersteinen lag.
»So«, sagte er.
Frau Potulski hatte ihm zugesehen, Frau Potulski schritt wortlos an ihm vorbei, er blieb dicht hinter ihr. Ihre Haare und Jacke waren beigeschmutzigorange, im Farbton nur um Nuancen verschieden. Die Haare endeten knapp über dem Kragen, die Schnittkante gerade und dick, bewegte sich nicht, wippte nicht. Sie ging zügig vor ihm her, als wisse sie, wohin. Die Haarspitzen sahen aus wie eine Bürste, er streckte eine Hand aus, beschleunigte seine Schritte, strich mit der Handfläche die Schnittkante entlang, die Haarspitzen waren weich, kitzelten ihn. Sie zuckte weg, als sei seine Hand ein Insekt, eine Wespe, Fliege, lästig, drehte sich um, presste Lippen, Stirnfalten, die Augen wurden schmaler, als sie sah, was es war. »Lassen Sie das.«
Er blieb stehen.
»Dort gehe ich einkaufen«, er zeigte auf den Edeka-Markt auf der anderen Straßenseite.
Sie steuerte auf den Kantstein zu, auf eine Lücke zwischen den geparkten Autos, die Straße war frei, er griff nach ihrem Jackenärmel. »Da vorne ist die Ampel«, sagte er, »dort gehen wir rüber.«
Sie sah hinab, auf seine Hand, einen Augenblick lang schien sie zu überlegen, ob sie den Arm hochreißen, ob sie widersprechen, ob sie weitergehen sollte, doch dann nickte sie, ging ruhig neben ihm her zur Ampel.
Sie interessierte sich natürlich für die Sonderangebote, die in der Gangmitte standen, nahm eine hellgelbe Plastikflasche aus einem der Stapel, las laut »Waffelteig« vor, drehte sich zu ihm um, »aus der Flasche«, sagte sie erstaunt.
Er nahm den Waffelteig aus ihrer Hand, stellte ihn zurück, vorsichtig, damit die sauberen gelben Reihen nicht umstürzten.
»Lass das«, sagte er.
»Lassen Sie das, Jana«, Frau Potulski griff nach der Stange des Einkaufwagens, wollte ihn weiterschieben. Er war schneller, »ich nehme den.« Eine Frau drehte sich um, musterte erst ihn, dann Frau Potulski, blickte wieder ihn an und schüttelte den Kopf.
»Brühe und was noch«, fragte er.
»Kartoffeln«, begann sie. »Butter, Brot, Käse, etwas zu trinken.«
»Ich trinke nur Tee.«
»Ich nicht.«
»Sie können Leitungswasser trinken.«
»Nein«, unvermittelt blieb sie stehen und verschränkte die Arme.
»Die Brühe steht neben dem Kühlregal.« Er schob den Wagen in die Richtung, sie folgte ihm nicht.
Frau Potulski wartete am Obststand, in jeder Hand einen grünen Saftkarton, legte beide in den Wagen.
»Das ist reines Zuckerwasser«, entgegnete er.
Sie blieb stumm, nahm ein Plastiknetz mit Mandarinen und legte es daneben.
Den Saft ließ er im Wagen, die Kassiererin deutete auf ein Schild über der Kasse. Bitte legen Sie alle Waren auf das Band , stand dort.
Er wandte sich um. »Sie wollten den Saft«, sagte er.
Frau Potulski verdrehte die Augen, griff an ihm vorbei, nahm die Saftpakete aus dem Wagen, reichte sie der Kassiererin.
»Die tragen Sie nach Hause«, sagte er.
»Gut«, antwortete sie, die Kassiererin lächelte ihr zu. Er zahlte in bar, die Karten benutzte er nie, schirmte sein Portemonnaie mit einer Hand vor den Blicken ab, als er es öffnete. Er sah sich suchend um, ob er etwas vergessen hatte.
»Den Apfelsaft hat Ihre Pflegerin schon mitgenommen«, die Kassiererin machte eine Kopfbewegung in Richtung Frau Potulski, die an den Einpacktisch gelehnt stand.
»Das ist nicht meine Pflegerin«, antwortete er, »das ist meine Frau.«
»Was genau soll ich denn getan haben«, fragte sie beim Abendessen, die Ellbogen auf den Tisch gestützt, die Hände über dem Teller gefaltet, Dampf sammelte sich unter ihnen. Ihr Besteck lag unberührt neben dem Tellerrand.
»Ich weiß es nicht, sagen Sie es mir«, antwortete er, schob sich eine Gabel mit Kartoffelpüree und Erbsen in den Mund, das Kartoffelpüree war gut.
Nach dem Essen entwickelte er den Berliner Dom in seiner grauen Wuchtigkeit, ein paar Touristen vor dem Portal zusammengedrängt. Als er fertig war, nahm er die Regenfotos von der Leine, eigentlich hätte er einen Bleistift suchen müssen. Er hatte sich angewöhnt, das Datum der Aufnahme auf der Rückseite zu notieren. Stattdessen schob er die Regenfotos hastig zu einem Stapel zusammen, scherte sich nicht um Kratzer. Frau Potulski musste im Wohnzimmer sein. Nachdem er den Dom zum Trocknen aufgehängt und die Flaschen zurück ins Regal gestellt hatte, als die Entwicklerschale ausgewaschen abtropfte und das Papier wieder zu einem akkuraten Stapel geschichtet war, ging er nach ihr sehen.
Er hörte ihre Stimme bereits im Flur, sie war im Wohnzimmer, saß auf dem Sofa und telefonierte. Sie sprach polnisch, hielt sich mit den Fingern das freie Ohr zu, wandte den Kopf ab, als er fragte, mit wem sie spreche.
»Frau Potulski«, sie ignorierte ihn, »Frau Potulski«, wiederholte er, lauter, ihre Stimme wurde weich, als würde sie sich verabschieden. Er ging auf den Telefontisch zu, wollte die schwarze Taste drücken, wollte auflegen, sie kam ihm zuvor. Er stellte sich dicht vor sie, auf dem Sofa sitzend reichte sie ihm knapp bis zur Hüfte. »Mit wem haben Sie gesprochen?«
»Meine Schwester. Sie hat den Pass geholt, morgen bringt sie ihn zur Post, spätestens Montag wird er hier sein.« Sie stand auf, stand so dicht vor ihm, dass ihr Bauch fast den seinen berührte, er sah hinab. »Ich gehe schlafen«, sagte sie.
Er wartete lange an diesem Abend. Wartete im Flur, wartete auf das Drehen des Schlüssels, eine Hand an die Badezimmertür gelegt, Lackbläschen unter den Fingerkuppen. Wartete auf das metallische Schnappen des Schlosses, die andere Hand in die Hosentasche geschoben.
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