»Wo gehen Sie hin?«
»Hoch«, sagte er, sagte es über die Schulter, als wäre es selbstverständlich.
»Und ich?«
»Sie bleiben bei der Wäsche«, er tat, als wäre er erstaunt, dass sie fragte.
»Wenn Sie die Wäsche bewachen wollen«, ihr Arm, die Handfläche nach oben, beschrieb einen Halbkreis in Richtung Maschine, »bitte.«
»Nicht ich. Sie.«
Er wandte sich zur Tür, sie war schneller, drängte sich an ihm vorbei, schob ihn zur Seite. Auf der Schwelle blieb sie stehen, breitete die Arme aus, stemmte die Hände gegen den Türrahmen. Er ging auf sie zu, sie rührte sich nicht. Er streckte die Hand aus, wusste zunächst nicht, was er mit der Hand wollte. Die Hand näherte sich ihrem Gesicht, ihre Augen folgten ihr, seine Fingerspitzen berührten ihr Lippe, sie wich mit dem Gesicht zurück, musste den Türrahmen loslassen, wenn sie die Hand wegschlagen wollte. Er hob die Hand ein wenig höher, ihre Lippen waren weich und glatt. Warm. Er berührte ihre Oberlippe, ließ die Fingerkuppe hinabgleiten auf die Unterlippe, schob sie leicht nach unten, so dass er ihre Zähne sehen konnte. Weiter nach unten, bis die Lippe umklappte, das hellrote Fleisch der Innenseite sichtbar wurde, sein Finger feucht von ihrem Speichel. Sie schlug die Hand weg, schlug mit Kraft, sie tat ihm weh, ging einen Schritt zurück, wollte nach ihm stoßen, doch er war schneller. Drängte sich an ihr vorbei zur Kellertreppe.
»Hab ich wenigstens meine Ruhe«, rief sie hinter ihm her.
Er ging auf die Toilette, in Ruhe, öffnete das Fenster weit nach dem Spülen. Der geblümte Kulturbeutel lag noch immer im Regal, er nahm ihn mit ins Wohnzimmer.
In der Mitte des Raumes blieb er stehen. Ihre Wäsche lag auf dem Sofa, die Bettdecke zusammengelegt auf der Lehne, obenauf ihr Kopfkissen, als gehöre das Sofa ihr. Unschlüssig betrachtete er den grünen Sessel, schob schließlich die Decke beiseite, sie fiel auf den Boden, den Kulturbeutel stellte er daneben. Sie hatte den Bildband nicht weggeräumt, er lag noch immer auf dem Couchtisch, er könnte ihn ins Regal tun, er ließ es bleiben. Aus dem Bad hörte er das Wasser in den Spülkasten nachlaufen. Er könnte das Radio anstellen, mit geschlossenen Augen Musik hören, er rührte sich nicht. Die Stille wurde eindrücklicher, er fühlte ihre Abwesenheit, fühlte, dass er allein war, endlich allein war, er sollte erleichtert sein. Dennoch stand er auf, ging zum Sideboard und schaltete das Radio an. Es lief »Umwelt und Natur«. »Es werden nicht nur ungewöhnlich viele sein, sie werden auch überdurchschnittlich groß«, sagte eine Männerstimme, er mochte die Sendung nicht. »Die Körpermaße eines Maikäfers entscheiden sich im Engerlingstadium«, fuhr die Stimme fort. Kalt war es im Keller, er sah sie auf der Bank sitzen, in die sich drehende Trommel starren. »Ein Chitinpanzer kann nicht wachsen.« Es klingelte, klingelte an der Wohnungstür, nicht unten. »Er kann sich auch nicht häuten, ein Käfer ist schließlich kein Reptil.« Vielleicht musste sie auf die Toilette, im Hinausgehen schaltete er das Radio aus.
»Wo trocknet die Wäsche?«, sie war außer Atem, war die Stufen hochgelaufen.
»Ist die Maschine schon durch?«, er sah auf seine Uhr.
»Wo trocknet die Wäsche?«, wiederholte sie.
»Auf den Leinen. Unten«, er war erstaunt.
Sie schob ihn zur Seite, so plötzlich, dass er vergaß, sich zu wehren, ihr den Weg zu versperren, den Türrahmen mit seinen Armen dichtzumachen. Drängte sich an ihm vorbei in den Flur. »Ich bewache doch nicht die Wäsche, bis sie getrocknet ist«, sie schüttelte den Kopf.
Er wartete, bis sie in der Küche verschwunden war, legte die Zeitung in Griffweite auf den Couchtisch und setzte sich in den Sessel. Im Radio endlich Klassik, er meinte Mozart zu erkennen, lehnte sich zurück, der Himmel gleichmäßig hellgrau. Sie öffnete die Küchenschränke, er hörte die Scharniere, stellte Gegenstände auf die Arbeitsplatte, die Geräusche leise und gedämpft, sie räumte den Vorratsschrank aus. Er schloss die Augen, es war Bach und nicht Mozart, der Ansager kündigte das nächste Konzert an.
Sein Mund war trocken. Er saß. Lag nicht. Er war aufgewacht, und es war dunkel, und er lag nicht in seinem Bett. Er war im Wohnzimmer, er saß in dem grünen Sessel, metallisches Klappern drang gedämpft aus der Küche.
Das Besteck lag auf dem Küchentisch, je ein Haufen Messer, Gabeln, Suppenlöffel, Teelöffel. Jana Potulski stand an der Spüle, Schaum auf ihren Händen, und trocknete die Plastikeinlage der Besteckschublade ab.
Sie drehte sich halb zu ihm um, »wann wollen wir essen?« Sie legte die Einlage in die Schublade zurück, trocknete die Hände mit dem Geschirrtuch ab. Er zuckte mit den Achseln, gähnte ohne Hand vor dem Mund.
Erstaunt betrachtete sie die Gabeln in ihrer Hand. »Das ist Silber«, sagte sie, legte die Gabeln in ihr Fach und zog eine hervor, schwärzlich verfärbt, die Zinken ein wenig verbogen. Das detailliert ausgearbeitete Dekor werde durch Oxydation noch besser hervorgehoben, stand in dem Prospekt, den seine Frau ihm vorgelesen hatte. Frau Potulski musterte die Rückseite des Griffs, suchte nach einer Marke, einer Aufschrift.
»WMF«, sagte er, »Fächermuster.« In der Echtsilberausführung, nicht 90 Gramm hart versilbert, sondern Sterling, hatte seine Frau immer betont.
Zu Weihnachten und ihren Geburtstagen hatten sie sich gegenseitig Messer und Gabeln, Tortenheber und Sahnelöffel und Sandwichzangen geschenkt. Seine Frau wollte es so. Zu ihrem fünfzigsten Geburtstag hatte er eine Reise gebucht, Costa del Sol, zwei Wochen, Halbpension. Sie war zornig geworden. Immer mache er alles kaputt, hatte sie gesagt, nie erfasse er das Wesentliche, und war ins Bad gegangen, um zu weinen. Neun Messer, Gabeln, Suppen- und Teelöffel waren es gewesen, acht Kuchengabeln, ein Tortenheber, ein Sahnelöffel, zwei Sandwichzangen, als sie starb. Sechs der Gedecke konnte er verkaufen, von dem Erlös hatte er die Kamera bezahlt.
Sie summte, während sie den Tisch abräumte, das Geschirr in die Spüle stellte, er nahm die Zeitung vom Couchtisch, ließ sich in den Sessel fallen.
Das Geräusch ihrer Füße auf den Dielen, das Knarren unter ihrem Gewicht blieb aus. Schließlich hob er den Kopf, Jana Potulski war stehen geblieben, auf der Türschwelle, ihr Mund geöffnet, ihre Hände erhoben, die Handflächen ihm zugewandt, als hätte sie etwas sagen wollen. Sie ließ die Hände sinken, sah ihn nicht an, setzte vorsichtig einen Fuß auf, das Knarren ließ sie wieder innehalten. Vielleicht sollte er Kommen Sie herein sagen. Er wandte sich wieder der Zeitung zu, es war eine der Sportseiten, die las er sonst nicht. Das eine Blatt zur Hälfte mit Tabellen bedruckt, auf der anderen Seite Fotos, lachende Skiläufer, an deren Nasen weißliche Tropfen hingen.
»Die Uhr ist kaputt?«, sie deutete zum Sideboard.
Er sah nicht auf, nickte nur.
»Die Batterie oder richtig kaputt?«
»Heil«, er schlug die Seiten um, »sie ist nicht aufgezogen, sie tickt zu laut. Seien Sie ruhig und setzen Sie sich hin.«
Er hörte, wie sie langsam zum Sofa ging, jeden Fuß behutsam aufsetzte, als eine der Dielen knarrte, seufzte sie leise. Stumm zählte er die Tabellen, wollte nicht umblättern, hörte, wie das Sofapolster nachgab, als sie sich setzte. Er schlug die Zeitungsseite um, mit Schwung um, das Papier legte sich nicht glatt aufeinander, bildete Falten, das Telefon klingelte. Klingelte so plötzlich, dass er zusammenzuckte, er starrte auf den Apparat, es war lange her, dass er geklingelt hatte. Jana Potulski sah ihn an, sah das Telefon an, auf dem Tischchen zwischen ihnen, es schrillte erneut.
»Soll ich?«
Er griff nach dem Hörer, räusperte sich, »Mildt.« Eine Frauenstimme, ihr Klang vertraut, sie sagte irgendwas, er verstand sie nicht.
»Bitte?«, sagte er. Einen Moment war es still.
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