»Was ist das?«, wiederholte sie, bückte sich nicht, machte keine Anstalten, die Bilder aufzuheben.
»Meine Frau«, antwortete er, »Sie sind Gast, Sie müssen tun, was ich sage.«
»Sie ist tot«, sagte sie, wieder mit der dünnen Mädchenstimme, als werde sie gleich weinen.
»Ich sagte doch, ich bin Witwer«, er wurde ungeduldig, »heben Sie die Bilder auf.«
»Sie haben sie umgebracht«, sie starrte ihn an, die Augen nicht mehr schmal, sondern weit aufgerissen, zum ersten Mal schien sie Angst zu haben.
»Raus«, brüllte er, »wie können Sie es wagen«, brüllte er, sie rührte sich nicht, zuckte nicht, starrte ihn bloß an.
»Sie haben sie getötet.«
Er packte ihren Unterarm, drückte ihn gegen ihren Bauch, benutzte ihn wie eine Stange, drängte sie rückwärts. Ihre andere Hand verkrallte sich in seinen Pyjama, er umfasste das Handgelenk, presste seine Fingernägel in Haut, stieß zu, lehnte sich gegen sie, mit seinem ganzen Gewicht gegen sie. Kurz hielt sie stand, doch dann musste sie rückwärts, er drängte sie weiter, rückwärts in den Flur zurück.
Er musste sie mit einer Hand loslassen, Tränen liefen aus ihren Augen, er bekam die Tür zu fassen, schlug sie zu, hörte Frau Potulski dumpf gegen das Holz prallen. Er lehnte sich gegen die Tür, drehte den Schlüssel, seine Lunge sog ruckartig Luft ein, seine Arme taten weh.
Den ersten Film hatte er noch am selben Abend zum Entwickeln gebracht, am nächsten Tag konnte er die Bilder abholen. Vor und nach dem Dienst ging er in den Garten, nach ihr sehen.
Sie lag auf der Seite, der Körper bekleidet mit einem blauen Kittel, Knopfleiste vorn, mit Büstenhalter und Unterwäsche, die Kleidungsstücke ohne Befund, stand im Ermittlungsbericht. Ein Arm über den Kopf ausgestreckt, neben ihrer Hand der Klammerbeutel. Der andere Arm quer vor ihrem Bauch, mit dem Handrücken aufgestützt auf den grünen Rasen, das Handgelenk im 90-Grad-Winkel abgeknickt, als würde sie etwas halten. Einen kleinen Korb vielleicht. Als die Starre nachließ, sackte der Arm hinab auf ihren Körper.
Zuerst kamen die Totenflecken, Livores. Die Unterseiten von Armen und Beinen, auch ihr Nacken, färbten sich dunkel, das Blut dort zusammengelaufen und geronnen, die übrige Haut sehr hell. Ihr Kopf zur Seite gedreht, die rechte Gesichtshälfte ins Gras gedrückt, Nase, Wange und Kinn violett. Auf Armen und Rücken erschienen unregelmäßige Streifen, Kriechspuren von Nacktschnecken, die in der Morgensonne glitzerten. In den braun gefärbten Löckchen erst Tau, später kleine schwarze Käfer. Ihre Augen offen, ein kleines silbriges Insekt klebte auf dem rechten Augapfel, auf dem Schwarz der Pupille. Er ließ es dort, nur die Schnecken sammelte er morgens und abends ab und warf sie auf den Kompost.
Die Gänseblümchen leuchteten weiß, auf den ersten Bildern auch die Wäsche, er ließ sie auf der Leine hängen. Nach kurzer Zeit war sie gelblich, gesprenkelt mit schwarzem Vogelkot. Ein Kopfkissenbezug riss sich los, der Wind trieb ihn über den Rasen, jeden Morgen lag er woanders, am Ende hing er in den Rosen. Er hatte hinter ihr gestanden, als er die ersten Fotos aufnahm, ungefähr einen Meter hinter ihren Füßen, die Gänseblümchen waren scharf gezeichnet, ihr Nacken war zu sehen, ihre Waden. An den nächsten Tagen bemühte er sich, genau die gleiche Stelle wiederzufinden, es gelang ihm nicht. Schließlich ging er in die Garage und holte einen Kricketschläger, suchte eine Position, die ihm richtig erschien, und markierte die Stelle mit dem Schläger, der Ermittlungsbericht erwähnte es in der Spalte »Besonderheiten«. Ihre Haut wurde zuerst immer weißer, dann grau, über Nacht fraß ein Nager ihre Nase an, ein weißes Knochenhorn kam zum Vorschein. Die Hecke zur rechten Seite war hoch, hinter dem Garten begann der Wald, die Nachbarn auf der anderen Seite waren im Urlaub. Essen holte er beim Imbiss, die Wäsche gab er in der Reinigung ab, niemand fragte nach ihr. Er hatte den Hund kläffen hören, war nachts aufgewacht und hatte ihn kläffen hören. Am nächsten Morgen, er war noch beim Zähneputzen, klingelten die Kollegen. Die Nachbarn hatten angerufen, sie waren zurück, ihr Spaniel hatte am Zaun gekläfft, stundenlang und gar nicht davon abzubringen, gaben sie zu Protokoll.
Er hatte oft in dem Zimmer gesessen, bei Einsatzbesprechungen, manchmal auch nach Dienstschluss. Hatte die immergleichen Büropflanzen auf der Fensterbank betrachtet, die nicht zu wachsen schienen, ihre langen blassgrünen Blätter von einer Staubschicht bedeckt, in den Töpfen braunes Granulat. Hatte sich über das Waschbecken in der Ecke und den Spiegel darüber gewundert, über das hellgelbe rissige Seifenstück, das, wie die Pflanzen, seine Größe nicht veränderte. Er kannte den blanken Schreibtisch, auf dem nur selten eine Akte gelegen hatte, kannte die dunkelgrüne Schreibauflage, akkurat nach der Tischkante ausgerichtet. Wenn sie hier zusammenkamen, hatten sie um den langen Besprechungstisch gesessen, der jetzt in seinem Rücken stand. Auch nach Dienstschluss, wenn sie Cognac tranken, sich über Frühschichten und Spätschichten beklagten, über die Ausrüstung, die winzigen Zuwächse bei den Bezügen, Überstunden, wenn sie sich über den Irrsinn von denen da draußen und denen da oben verständigt hatten.
Die Obduktion ergab Subarachnoidalblutung durch Perforation eines Aneurysmas, teilte ihm der Schichtleiter mit.
Er hatte den orangenen Aktendeckel angesehen und nicht gewusst, was er antworten sollte. Sie hatten sie aufgeschnitten. Sie hatten sie aufgeschnitten und nachgesehen, ob er ihr etwas angetan hatte. Hatten ihn auf den Besucherstuhl gesetzt, ihm verschwiegen, dass sie sie aufschneiden würden, hatten für möglich gehalten. Nicht gefragt, sondern aufgeschnitten und nachgesehen.
Wenn er etwas gelernt habe in diesem Beruf, dann, dass es Dinge gäbe, die man nicht verstehe, hatte der Schichtleiter gesagt und die Akte geöffnet, wahllos ein paar Seiten umgeblättert, Dinge, die man nicht verstehe, hatte er wiederholt.
»Wie viele Sterbefälle hast du bearbeitet?«, der Schichtleiter hatte eine Pause gemacht, als erwarte er eine Antwort. »Erst den Arzt rufen und dann den Bestatter, damit er sie abholt, die Leiche«, fuhr er fort.
»Aus Liebe« habe er es getan, hörte er in den Gängen der Dienststelle. Er war weitergegangen, hatte sie nicht korrigiert, hatte es nicht richtiggestellt. Er hatte die Frühpensionierung selbst vorgeschlagen, sein Schichtleiter sah erleichtert aus.
Es war dunkel, als er aufwachte, er konnte den Wecker nicht erkennen. Seine Hände suchten die Nachttischlampe, ertasteten das Kabel, fuhren es entlang, bis sie gegen den Schalter stießen. Er musste blinzeln, es war kurz nach sechs. Er lehnte sich zurück, fühlte das weiche Nachgeben des Kopfkissens, hörte, wie die Luft durch den Stoff des Kissenbezugs gedrückt wurde, als sein Gewicht die Daunen zusammenstauchte. Eine Feder bohrte sich in seinen Nacken, er hätte sie aus dem Kissen ziehen können, er rührte sich nicht. Den Federkiel fest gegen die weiche Haut unter seinem Ohr gepresst, zog er die Decke glatt im matten Licht, schob mit der Handfläche die Falten zum Rand. Aus dem Wohnzimmer kein Laut, im Flur niemand. Es gab kein Bild für heute, er drehte den Kopf zur Seite, presste den Nacken fester gegen den Kiel. Er konnte nicht fahren, sein Druck schob die Daune wieder in den Bezug zurück, ein wenig spürte er noch das Stechen, er streckte die Hand aus, seine Finger legten den Schalter wieder um. Still lag er, wartete, bis seine Augen in der Dunkelheit die etwas helleren Fenstervierecke wieder ausmachen konnten. Irgendwo im Haus lief Wasser, floss das Fallrohr hinab. Klang, als hätte er vergessen, den Hahn abzudrehen. In der ersten Nacht war er aufgestanden und hatte nachgesehen, frierend in seinem Pyjama, im hellen Badlicht blinzelnd.
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