Jana Potulski hüpfte, von einem Fuß auf den anderen, es sah lächerlich aus, eine kleine stämmige Frau, die hüpfte.
»Sie müssen aus der Packung trinken, ich habe nur einen Becher«, sagte er, der Drehverschluss gab endlich nach. Er hielt ihr den geöffneten Saft hin, sie sah ihn nicht einmal an.
»Der ist kalt«, sagte sie, »davon wird mir noch kälter.«
Er ließ den Arm ausgestreckt, der Karton war schwer, sein Arm zitterte.
»Sie wollten den Apfelsaft haben, jetzt werden Sie ihn auch trinken«, sagte er.
Langsam nahm sie die Packung, blickte ihn unentwegt an, er fühlte die Wärme des Bechers in seinen Fingern, der Dampf ließ seine Nase tropfen. Aus dem Augenwinkel sah er, dass Frau Potulski die Saftpackung ansetzte, er konnte sie schlucken hören. Beim Absetzen lief ein wenig Saft über ihr Kinn.
»Davon wird mir noch kälter«, sagte sie.
Er antwortete nicht. Schweigend stießen sie nebeneinander Atemwolken aus, die Touristen gingen langsam in die Kirche. Frau Potulski musterte den Streusand, die aufgeweichten Zigarettenreste, trat einen Schritt vor und schob mit der Schuhspitze eine Kippe an den Kantstein. Sie stellte den Saft auf den Boden, schob eine weitere Kippe zur ersten, ihre Turnschuhe grau durchnässt. Wo die Zigarettenkippe gelegen hatte, blieb ein schwarzer Aschefleck auf dem Schnee zurück. Er sah zu, wie sie allmählich einen kleinen Haufen zusammenschob.
»So«, er drehte den Becher um, der restliche Tee tropfte auf den Bürgersteig, war noch warm genug, um kleine Löcher in den Schnee zu schmelzen. Die bunten Winterjacken waren in der Kirche verschwunden, er schraubte den Becher auf die Kanne, nahm die Haube von der Kamera, Frau Potulski rührte sich nicht, betrachtete den Kippenhaufen.
»Der Schirm.« Sie schob ungerührt eine weitere Kippe zum Kantstein. Er nahm ihn, hielt ihn vor sie hin, hielt ihn vor ihren Bauch, »hier.« Sie steckte beide Hände in die Jackentasche. »Hier!« Er brüllte fast, eine Passantin drehte sich um, es scherte ihn nicht. Schließlich streckte sie die Hand aus, klappte den Schirm auf, hielt ihn seitlich vom Körper weg, drehte ihn wie ein Kind zwischen den Fingern, drehte ihn immer schneller, er musste den Metallspitzen der Speichen ausweichen. Rasch zog er die Haube von der Kamera, steckte sie in seine Manteltasche, nahm den Deckel vom Objektiv.
»Ich muss«, sagte sie, den Schirm hielt sie noch immer seitlich vom Körper abgespreizt.
Er wartete.
»Ich muss auf Toilette«, vervollständigte sie ungeduldig.
»Gleich«, sagte er, »gleich sind sie drin«, er deutete auf die Kirche, sie sah in dieselbe Richtung.
»Nein.«
»Wenn sie drin sind, geht es schnell«, er beugte sich wieder zum Sucher hinab.
»Ich muss jetzt«, sie klappte den Schirm zusammen, »hier.«
Als er den Schirm nicht nahm, legte sie ihn zwischen die Stativfüße in den Schnee.
»Frau Potulski«, er richtete sich auf, doch sie hatte sich abgewandt.
»Bis gleich«, sagte sie über die Schulter, stand am Bordstein und wartete ruhig, bis der Verkehr kurz nachließ.
Die Winterjacken waren nicht mehr zu sehen, die Kirchentür war geschlossen, der Vorplatz leer, nur Schnee, zerwühlter, dreckiger, festgetretener und aufgeworfener Schnee. Nichts rührte sich, er beugte sich hinab, fühlte den Auslöser unter seinem Zeigefinger, berührte ihn nur, drückte ihn nicht hinab, fühlte, wie er leicht nachgab, nein. Er richtete sich auf, er würde warten. Ihren Ungehorsam nicht belohnen, indem er das Bild machte, so dass sie schneller gehen konnten. So einfach würde er sie nicht davonkommen lassen, er zog die Haube über die Kamera, schob die Hände in die Manteltasche, er würde warten.
Sie kam zurück, schneller als gedacht, er erkannte sie von Weitem, beige, schwarz, klein, wie sie sich zwischen Touristen durchzwängte, eilig.
»Es kostet Geld«, sagte sie atemlos, als sie vor ihm stand, ihr Körper blieb in Bewegung, wippte auf und ab. Unwillkürlich hob er die Hand, tastete die linke Brust ab, es war da, fest und quadratisch unter dem weichen Wollstoff des Mantels.
Er ließ sich Zeit, zog das Portemonnaie bedächtig hervor, knöpfte sorgsam den Mantel wieder zu, bevor er das Münzfach öffnete. Er hielt es ein wenig schräg, so dass alle Münzen auf eine Seite rutschten, schob sie mit dem Zeigefinger auseinander, als würde er suchen. Ließ die Münzen zur anderen Seite rutschen.
Sie konnte nicht mehr stillstehen, die Lippen zusammengepresst, die Stirn in Falten.
»Beeilung«, sagte sie.
Er fühlte ein Lächeln in seinen Mundwinkeln, als er die Münzen mit kurzen, ruckartigen Bewegungen zurück in die Mitte beförderte, ehe er sich für eine entschied.
Sie sah hinab auf die Messingmünze, die in den Lederfalten der Handschuhe fast verschwand.
»Das ist zu wenig«, sagte sie, »50 Cent stand auf dem Schild.«
»50 Cent? Das ist eine Mark. Ich bezahle doch nicht eine Mark, damit Sie …«, er brach ab.
»Gut, dann nicht«, sie drehte ihm den Rücken zu, sah den Gehweg entlang, verlagerte ihr Gewicht vom linken auf den rechten auf den linken Turnschuh. Ein Pärchen kam ihnen entgegen, Frau Potulskis Lippen, ihre breiten Lippen lächelten. Lächelten warm. Ein Pärchen in roten Winterjacken, mit Mützen und Schals und Handschuhen, mit Kamera und mit Straßenkarte und leichtem Rucksack und Plänen, wo sie essen und wie sie den Nachmittag verbringen würden.
Unvermittelt stieß Frau Potulski sich mit den Füßen ab, grub das Turnschuhprofil in den Schnee, drückte ihren Körper nach vorn. Er fühlte die jähe Bewegung neben sich, sie streifte seinen Ärmel, »was …?« Sie beachtete ihn nicht. Er griff nach ihr, griff ins Leere, zielstrebig ging sie dem Pärchen entgegen, zielstrebig blickte sie den beiden ins Gesicht. So zielstrebig, dass das Pärchen den Kurs änderte, auf Frau Potulski zusteuerte. Beide lächelten hilfsbereit, als sie ihr gegenüberstanden, er starrte auf Frau Potulskis beigen Jackenrücken, konnte nicht verstehen, was sie sagte, sie gestikulierte, breitete die Arme auseinander, streckte entschuldigend die Handflächen aus. Die beiden nickten einige Male, nickten gleichzeitig. Er konnte sehen, wie ihr Lächeln millimeterweise schmaler wurde, die Frau nahm den kleinen schwarzen Rucksack von ihrer Schulter und zog ein Portemonnaie hervor. Ihre Blicke wanderten an Jana Potulskis Gesicht vorbei, glitten über den Bürgersteig, bis sie an ihm hängenblieben. Ihn fixierten, ihn, erstarrt neben seiner Kamera. Vier Augen tasteten seinen Mantel ab, der dringend ausgebürstet werden müsste. Sie besahen sein Gesicht, seine Tränensäcke, seine hängenden Wangen, seine Lippen, die bestimmt wieder zitterten, weil er sie zusammenpresste.
Auch Frau Potulski drehte sich um, kurz, meinte er, sie würde mit dem Finger auf ihn deuten, doch sie lächelte nur still. Er wollte zurückstarren, aufrecht und stark, doch seine Augen wurden abgedrängt von ihren Augen, auf den Schnee hinabgezwungen, bis sie im fließenden Verkehr der Liebknechtstraße Halt fanden. Autos zogen vor seinen Pupillen vorbei, rot, silbern, graphitfarben. Sie hatte um Geld gebeten, Jana Potulski bettelte, stand nur wenige Schritte entfernt, drehte ihm den Rücken zu und bettelte. Er wagte nicht, sich von der Straße abzuwenden, er hätte ihr das Geld gegeben, nicht sogleich, aber er hätte es ihr gegeben. Wut breitete sich in ihm aus, ließ seinen Arm jäh durch die Luft fahren, gegen die Kamera stoßen, sie wackelte nur.
»Danke«, sagte Frau Potulski, »vielen, vielen Dank, Sie sind gute Menschen«, sagte es laut, damit er es hörte. Die Antwort verstand er nicht, sie war zu leise. »Nein, Sie haben ein gutes Herz, das ist selten. Gott behüte Sie.«
Jana Potulski kam auf ihn zu, hielt eine Münze hoch und lächelte. Breit und triumphierend. Ging an ihm vorbei, an ihm mit seiner Kamera, eilig auf den Bordstein zu.
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