Unvermittelt beugte er sich vor, versuchte, durch das Seitenfenster des neben ihm parkenden Autos zu sehen, ob sie dort kauerte. Er war zu langsam, sie hatte gesehen, was er vorhatte, hatte sich tiefer geduckt, hockte unterhalb des Fensters. Er setzte sich wieder in Bewegung, lauschte, versuchte, den rauschenden Verkehr auszublenden, die Wortfetzen der Vorbeigehenden. Es knirschte. Er hörte ein Knirschen, es kam aus Richtung der Fahrzeuge am Seitenstreifen. Ein Knirschen, als würde vereister Schnee unter Schuhsohlen zertreten, ein Knirschen, das langsamer wurde, als er langsamer wurde. Sie lief neben ihm her. Verbarg sich hinter den Autos, lief neben ihm her, leicht in der Hocke, den Oberkörper weit hinabgebeugt, beobachtete ihn durch die Seitenfenster, die Heckscheiben. Atemlos, schwitzend, immer dicht bei ihm.
»Frau Potulski«, er wandte sich der parkenden Autoreihe zu, »Frau Potulski«, sagte er, sagte es streng, wartete, ob sie auftauchen, ihren Oberkörper aufrichten würde. Sie rührte sich nicht, blieb hocken.
»Ich sehe Sie«, sagte er. »Ich kann Sie sehen, Frau Potulski.« Er sagte es laut, sagte es auch in Richtung der Bäume, starrte die Straße hinab, den Saft konnte er noch ausmachen. Entschlossen ging er auf die Fahrban zu, auf eine schmale Lücke zwischen den Fahrzeugen, seine Sohlen zertraten knirschend harte Schneeklumpen, rutschten ab, als er über den kleinen Schneewall stieg, seitwärts zwischen den Stoßstangen durchging, er musste schnell sein, sonst würde sie ausweichen, sich hinter einen Kofferraum hocken, beinahe wäre er gefallen, stützte sich mit der Hand auf der Motorhaube ab. Er blickte die Autoreihe entlang, direkt neben ihm fuhren Fahrzeuge. Nichts. Jana Potulski war nicht zu sehen.
Sie wartete nicht vor der Haustür, hatte sich nicht im Hauseingang untergestellt. Die Wohnungstür war geschlossen, der hellgraue Lack intakt, ohne die beiden breiten, parallelen Schrammen, die ein Stemmeisen hinterlassen hätte, ohne Bohrlöcher, rechts und links des Schlosses. Sie konnte einen Nachschlüssel angefertigt haben, der Hausschlüssel hing am Schlüsselbrett, sie hätte ihn nehmen können, zum Schlüsseldienst bringen, er versuchte sich zu erinnern, ob er sie lange genug aus den Augen gelassen hatte. Er schob den Schlüssel ins Schloss, drehte, zählte laut mit, drehte ein Mal, drehte zwei Mal, die Tür war doppelt verschlossen, wie immer.
Er machte sich nicht die Mühe, das Licht im Flur anzuschalten. Er ging ins Wohnzimmer, die Tasche stand noch immer vor der Couch auf dem Boden, aus unerfindlichen Gründen war er erleichtert.
Er zog den Mantel nicht aus, nahm die Mütze nicht ab, seine Zehen schmerzten vor Kälte. Ließ sich auf die Couch fallen, schloss die Augen, hörte zu, wie seine Zähne rasend schnell aufeinanderschlugen. Vor ihm auf dem Tisch lag noch immer der Bildband, sie hatte ihn nicht weggeräumt. Ein Tropfen lief über sein Gesicht. Schnee schmolz auf seiner Mütze, er nahm sie ab, legte sie neben sich auf das Polster, schloss erneut die Augen. Er hatte nichts gegessen, die Brote waren noch in der Fototasche. Die Tasche stand im Flur, er müsste nur aufstehen und sie holen, er blieb sitzen. Nicht einmal den Tee hatte er getrunken. Wenn er an das altbackene Graubrot dachte, von der Butter durchweicht, verspürte er Widerwillen.
Schließlich beugte er sich vor, griff nach ihrer blauen Tasche, der Reißverschluss leistete keinen Widerstand, schnurrte auf. Zuoberst lag das schwarze T-Shirt, nicht zusammengelegt, er drückte sein Gesicht in den weichen Stoff, sog Waschmittelgeruch ein und etwas Herbes. Eine türkise Haarbürste, gelbliche Haare in ihr verwebt, die Plastikborsten mit einer grauen Schicht aus Staub und Fett überzogen. Auf dem Griff Reste einer Aufschrift, InStyle hatte dort gestanden, in Schwarz, das half nicht weiter, solche Bürsten konnte man in jedem Supermarkt Europas kaufen. Er legte die Bürste auf den Couchtisch, hob das T-Shirt auf und legte es daneben. Der weiße BH sah seltsam aus in seinen schwarzen Lederhänden, hell und zerbrechlich, ungeduldig zog er an den Fingern der Handschuhe, warf sie achtlos zu Boden. Kein Herstelleretikett, nur ein Schildchen, auf dem 85C stand, er legte den BH zu den anderen Sachen, richtete sie akkurat an der Tischkante aus. Zwei Unterhosen, eine davon unbenutzt, eine Flasche, auf der Bodylotion stand, sie roch nach Vanille, ein Paar Tennissocken, getragen, eine dunkle Hose, ein Paket Pflaster, das ungeöffnet aussah, sonst nichts. Er öffnete die Schachtel mit den Pflastern, sechsunddreißig Stück stand auf der Packung, er zählte sie, es fehlte keins. Sie hatte wenig Gepäck für jemanden, der auf den Weg in den Urlaub gewesen war.
Beim Aufstehen stieß er mit der Ferse gegen den Telefontisch, der Hörer rutschte von der Gabel, leise hörte er das Freizeichen. Vielleicht sollte er die Polizei anrufen, die Krankenhäuser, er schob den Hörer wieder auf den Apparat.
Dort, wo er gesessen hatte, war einer nasser Fleck auf der Couch. Bestimmt musste das Leder eingefettet werden, und trocknen müsste man es vorher, das konnte sie erledigen, wenn sie wieder da war, sollte sie zusehen, wie sie den Fleck wegbekam.
Er ging im Bad nachsehen, die Haustür stand offen, einen Augenblick stand er im Flur, spähte ins dunkle Treppenhaus, ob sich jemand bewegte, sie sich bewegte, doch da war nichts. Er drückte die Tür zu, schloss ein Mal, schloss zwei Mal ab und steckte den Schlüssel in die Hosentasche.
Ihre Zahnbürste, hellgrün, stand im Zahnputzbecher auf dem Waschbeckenrand, er nahm sie in die Hand. Die Borsten weiß und gerade, er drückte sie mit dem Daumen zusammen, er hatte seine Hände nicht gewaschen, drückte sie noch mal zusammen, den ganzen Tag nicht, anmutig bogen sich die Borsten zur Seite. Sie hatte gesagt, sie sei überfallen worden, er hatte sie gar nicht danach gefragt.
Er sah auf, in den Spiegel, schwarzer Mantel, schwarze Mütze, seine Augen größer als sonst, mehr gelblicher Augapfel war sichtbar, durchzogen von einem roten Netz. Er nahm die Mütze ab, sie hinterließ eine Linie auf seiner Stirn, die sich in den Haaren fortsetzte, er ließ die Mütze fallen. Seine Augen weit aufgerissen, er rieb mit den Fingern über die Mützenlinie, aufgerissen, als hätte er Angst. Entweder hatte sie nicht geplant wegzulaufen, oder sie benötigte die Sachen nicht. Er wusste nicht, ob sie die Adresse kannte, genannt hatte er sie ihr nicht.
Er duschte lange, drehte das heiße Wasser voll auf, wollte die bleiche Kälte aus seinem Körper spülen. Er blieb still stehen unter dem Strahl, bis seine Haut dunkelrot war und Adern lila hervorquollen, wo eben noch glatte Haut gewesen war. Seine Füße waren geschwollen, die Hände auch, als er aus der Dusche stieg und die Heizung aufdrehte.
Die Haare rieb er mit dem Handtuch trocken, bis er bemerkte, dass es ihr Handtuch war. Unschlüssig besah er es, verspürte keinen Ekel, rubbelte weiter, das Handtuch roch nach Waschmittel. Er zog eine trockene Hose an, trockene Socken, seine Füße waren wieder ganz weiß, als fehle das Blut in ihnen.
Im Kühlschrank fand er einen Topf, einen Topf mit Deckel, Kondenswasser perlte an ihm herab, als er ihn herausnahm. Es war die restliche Kartoffelsuppe, sie roch gut, sein Magen zog sich begehrlich zusammen. Er nahm den Topf und trug ihn ins Bad, schüttete die Suppe in die Toilette, sah zu, wie sie sich mit dem Spülwasser vermischte.
Er würde sie nicht suchen, er ging in den Flur und holte die Fototasche, er würde die Bilder entwickeln, stellte die Tasche auf den Küchentisch, klappte sie auf und nahm die Brote heraus. Jana Potulski war sicher hungrig, Jana Potulski war weggelaufen, er würde die Brote alleine essen. Vorsichtig holte er die Ausrüstung aus der Tasche, Tee war auch noch da.
Er war nicht sicher, ob er in der Dunkelkammer die Türklingel hören würde. Sie hing über der Haustür, er müsste die Leiter holen, und ob sich die Klingel lauter stellen ließ, wusste er nicht. Er dachte an den harten Dielenboden, die braunpudrige Wolke, ihren stummen Blick, als sie es aufgewischt hatte. Sollte sie doch warten, sie war weggelaufen. Er schloss die Dunkelkammertür so heftig, dass sie wieder aufschwang, »Scheiße«, brüllte er. Er würde nicht zum Pfarrgarten fahren und nachsehen, ob sie dort stand und wartete. Er würde nicht feststellen, ob der Bürgersteig leer war, ob der Saft noch dort war, auf dem fleckigen Schnee im orangenen Licht der Laternen.
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