Das Pärchen ging langsam weiter, er wandte ihnen den Rücken zu, drehte am Objektiv, als würde er etwas einstellen. Sie starrten ihn an, er wusste, sie starrten ihn an, er beugte sich hinab, presste das Auge gegen den Sucher, am liebsten wäre er in die Kamera hineingekrochen, sein Rücken schmerzte. Er hörte ihre Schritte, das Knirschen des Schnees, schweigend gingen sie hinter seinem gekrümmten Rücken vorbei. Er richtete sich erst wieder auf, als er sicher war, dass sie ihn passiert hatten.
»Parasit«, brüllte er, »polnische Geschmeißfliege«, brüllte er, Jana Potulski überquerte langsam die Liebknechtstraße, sie zuckte nicht einmal. Seine Stimme schluckte der Verkehrslärm. Unbeirrt, als gäbe es ihn nicht, die Schultern fest, den Kopf erhoben, wartete sie am Mittelstreifen. Er hätte sie gern gestoßen, mit der Faust zwischen die Schulterblätter, zumindest mit der flachen Hand. Auf dass sie nach vorne fiel, sich nach ihm umsah. Plötzlich drehte sie sich um, das Kinn vorgereckt, die Augenbrauen zusammengezogen, zwei parallel verlaufende Falten teilten ihre Stirn.
»Herrenmensch«, brüllte sie, den Oberkörper nach vorn gebeugt, die Arme nach hinten gestreckt, die Hände geballt, »Her-ren-mensch.«
Das Wort hatte er lange nicht gehört, abrupt wandte sie sich ab. Er öffnete den Mund, er war erstaunt. Seinem Mund entwich eine Atemwolke, er hatte brüllen wollen, er wusste nur nicht mehr, was. Als könne er ihnen nichts anhaben, verschwanden die beigen Schultern in der Passantenmenge.
Sie brauchte lange. Er sah die Straße hinab, suchte das Beige ihrer Jacke zwischen dunklen Wollmänteln und bunten Allwetterjacken. Brauchte länger als die Reisegruppe, die schließlich gänzlich in der Kirche verschwand. Länger als die beiden Frauen, die die Tafel studierten und weitergingen. Als der Radfahrer, der abstieg, kurz den Sitz der Fahrradkette prüfte und weiterfuhr. Kurz meinte er, etwas Beiges ausmachen zu können, doch das Beige bog rasch in eine der Querstraßen ab, das Beige war auch das Falsche, es war zu dunkel.
Er müsste alles einpacken, Stativ, Kamera, die Objektive, alles einwickeln. Sie würde wiederkommen, sobald er alles in der Tasche verstaut hatte, würde sich nicht entschuldigen, ihn verständnislos ansehen, wenn er ihr erklärte, wie viel Zeit er ihretwegen verloren hatte. Es hatte aufgehört zu schneien, der Schirm war überflüssig. Der Winkel war perfekt, so hatte er es sich vorgestellt: rechts die Bäume, am linken Bildrand die Kirche. Er sah hinab zu den schwarzen Gummikappen an den Enden der Stativbeine, die sich in den Schnee gebohrt hatten, vier winzige Löcher, er würde die Stelle nicht wiederfinden, wenn er ginge, nach ihr sehen. Der Winkel war perfekt. Er könnte mit den Hacken einen Strich in den Schnee ziehen als Markierung. Er wandte sich um, betrachtete den Strom der entgegenkommenden Passanten, sie würden jeden Strich niedertrampeln, einebnen mit ihren geriffelten Profilsohlen, er konnte nicht gehen.
Er beugte sich hinab, presste das Auge an die schwarze Gummifütterung, eine Frau schob langsam ihren Kinderwagen durchs Bild. Er blieb gebückt, ein glühendes Band umschlang seinen Steiß, gern hätte er eine Hand daraufgepresst, wie ein Greis in einer Karikatur, eine wärmende Hand auf seinen Rücken gepresst, »Ischias«, sagte er leise.
Langsam bewegten sie sich aus dem Bild, erst der Kinderwagen, dann die Frau, und dann bewegte sich nichts mehr, nicht einmal die Bäume, es war windstill. Er atmete nicht, als seine Finger den Auslöser hinabdrückten, klack, automatisch neu spannten, klack, spannen, klack, spannen, er fühlte den Puls in seinen Schläfen, seinen Handgelenken, als er sich wieder aufrichtete. Er hatte sein Bild.
Er goss Tee in den Becher, trank hastig einen Schluck, verbrannte sich die Zunge, sog mit offenem Mund kalte Luft ein, seine Zunge schmerzte, als er sie gegen den Gaumen drückte. Er hatte sein Bild, er konnte einpacken. Er nahm die Plastiktüte aus der Tasche, wickelte die Kanne wieder ein, es war noch Tee übrig, sie kam ganz nach unten. Die Brote würden sie essen, wenn sie wieder zu Hause waren.
Er schraubte die Kamera vom Stativ, ärgern wollte sie ihn, ließ sich absichtlich Zeit, damit er sich sorgte. Er würde sich nicht sorgen, er klappte das Stativ zusammen.
Eine halbe Stunde war sicher vergangen, er hatte nicht auf die Uhr gesehen, vierzig Minuten vielleicht. Er packte die Tasche zu Ende, den Saft ließ er stehen, er packte sie sehr sorgfältig, hängte den Riemen über seine Schulter, Viertel nach eins. Er stand mitten auf dem Bürgersteig, ohne Kamera, ohne eine Beschäftigung, die Hände in den Manteltaschen. Hätte sie einen Unfall gehabt, würde er Sirenen gehört haben, er versuchte sich zu erinnern, nein, keine Sirenen, aber sicher war er nicht. Sein Kinn war steif vor Kälte, es schmerzte, wenn er den Mund verzog, er probierte es einige Male, eine Frau drehte sich nach ihm um, er wurde wütend. Sie wollte ihn ärgern, ließ sich absichtlich Zeit, trödelte, wie ein bockiges Kind, er hatte gesagt, er wäre bald fertig.
Er drehte sich einmal um die eigene Achse, sah die Parkwege entlang, wäre beinahe auf den Kippenhaufen getreten. Er nahm einen Schritt Anlauf, wie ein Fußballspieler beim Elfmeter, holte aus und rammte die Schuhspitze zwischen die Stummel. Das Zigarettenpapier riss, Filtermaterial und feuchte Tabakkrümel quollen braun hervor.
Seine Hände schmerzten trotz der Handschuhe, er hätte sie gern in die Manteltaschen gesteckt, in den rauen Schutz des Wollstoffs. Aber er brauchte die Arme zum Balancieren, er ging ein Stück den Parkweg entlang, auf dem blanken Eis lag Streusand, knirschte unter seinen Sohlen. Fühlte etwas auf seinem Rücken, leichter als eine Berührung, fühlte, wie sich Gänsehaut in seinem Nacken ausbreitete, sich die feinen Härchen in seinem Nacken aufstellten. Fühlte, dass seine Muskeln härter, die Schulterblätter wie zwei Käferflügel nach hinten gezogen wurden, nach unten, als würden sie Schutz bieten.
Er blieb stehen, er wurde beobachtet. Vielleicht hatte sie sich versteckt. War in der Nähe, hielt sich nur verborgen, wollte sehen, ob er sich sorgte. Verfolgte jede seiner Bewegungen, lächelte bei jeder Drehung seines Kopfes, als er versuchte, sich zu recken, auf Zehenspitzen, damit er den Park besser überblicken konnte, lächelte, verborgen und still, während er die Wege hinabspähte.
Vielleicht stand sie hinter einem der Bäume, hinter der Ecke der Kirche und sah ihm zu. Sah zu, wie er den vereisten Weg zurückstakste, mit abgespreizten Armen, die sich vor und zurück bewegten, als würde er schwimmen. Sah zu und lächelte, ihre Zähne sehr weiß. Das Lächeln wurde breiter, als sein Fuß wegrutschte. Er schwankte, meinte das Eis bereits mit dem Hinterkopf zu spüren, er würde hart aufschlagen, sein Blut würde in die Eiskristalle sickern, sich mit Schmelzwasser mischen, es hellrot färben. Er fing sich, fand das Gleichgewicht wieder, der Rücken versteift zu einem Hohlkreuz, sein Herzschlag schnell und dumpf. Stand reglos da, sah hinab auf die Pfütze, das Eis war dunkel und nicht weiß. Fühlte, wie Schweiß aus den Poren unter seinen Armen trat und sich auf kalte Haut legte.
Den Saft ließ er stehen. Nach sechsundzwanzig Schritten, er zählte sie leise, drehte er sich um, so schnell es der glattgetretene Schnee zuließ. Er prallte mit einem Mann zusammen, frontal zusammen, stieß mit dem Kinn gegen graue Mantelbrust, biss sich auf die Zunge. Der Mann musste dicht hinter ihm gegangen sein. Er schmeckte kein Blut, bewegte die Zunge, konnte jede einzelne Kerbe fühlen, die seine Zähne hinterlassen hatten. Der Mann sprach weiter in sein Mobiltelefon, sah ihn im Vorbeigehen an und schüttelte den Kopf.
Sie hatte unzählige Möglichkeiten. Die Bäume, der hellgraue Stromkasten auf der anderen Straßenseite, hüfthoch und mit Plakatresten beklebt, sie konnte hinter ihm kauern oder sich hinter die parkenden Autos ducken. Die Straße schnurgerade, er war leicht zu observieren. Sie kannte den Weg, er sollte abbiegen, in eine der Querstraßen, in einem Hauseingang haltmachen und warten.
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