Er entwickelte die Bilder, nach einer Weile hörten seine Hände auf zu zittern. Eine Zwölferserie hatte er gemacht, der restliche Film war leer, das kümmerte ihn nicht.
Kurz vor vier kam die Müllabfuhr. Er hörte die Klingeln in den leeren Wohnungen schrillen, hörte den Ton näher kommen, sich stockwerkweise herantasten. Er wusste, es war die Müllabfuhr, sie kam am Nachmittag, die Post vormittags, einmal die Woche klingelte jemand und wischte den Hausflur. Er erschrak trotzdem, als der Kasten neben seiner Tür losschrillte, zuckte zusammen wie ein Tier, eine Nadel fuhr zwischen seine Rippen. Er fragte, wer da sei, in die Gegensprechanlage, seine Stimme atemlos, als sei er gerannt. »Müllabfuhr«, antwortete ein Mann. Er war enttäuscht, rührte sich nicht, seine Finger berührten den Knopf des Summers, drückten ihn nicht herab, es klingelte erneut. Er wandte sich ab, drückte nicht den Summer, lauschte dem Sichentfernen des Klingelns.
Er nahm den Berliner Dom von der Leine, öffnete vorsichtig die Klammern, drückte die Enden sorgsam zusammen. Er holte den Bleistift aus der Dunkelkammer, hatte sich angewöhnt, das Datum der Aufnahme auf der Rückseite zu notieren. Er zögerte, stützte die Hand mit dem Stift auf der Tischplatte auf, musste nachrechnen, die Regenfotos hatte er vorher gemacht, danach war er nach Frankfurt/Oder gefahren. Er sah zum Kalender, Almhütte mit rosa Blüten, das half nicht, er war nicht sicher, welcher Tag heute war. Er warf den Stift auf die Arbeitsplatte, die Spitze brach ab, er schob die Fotos zu einem Stapel zusammen, kümmerte sich nicht um Kratzer, legte den Stapel auf die Fensterbank, das Papier würde sich wellen, Kälte und Feuchtigkeit, auch das kümmerte ihn nicht. Er ging den Pfarrgarten holen, klemmte ein Bild nach dem anderen an die Wäscheleine. Eine Aufnahme, die er ganz am Anfang probehalber gemacht hatte, hatte einen unregelmäßigen dunklen Streifen am oberen Rand. Der Schirm. Er berührte ihn mit dem Finger, strich über die noch klebrige Oberfläche, die Rillen seiner Fingerkuppe zeichneten sich auf dem Dunklen ab. Das machte nichts, er würde das Bild wegwerfen, es war Unsinn gewesen, es überhaupt zum Trocknen aufzuhängen.
Als er fertig war, nahm er den Kalender von der Wand. Das Papier war dünn, leistete wenig Widerstand, er hätte es sich anstrengender vorgestellt, er war enttäuscht, sah zu, wie seine Hände die Almhütte zerrissen, die rosa Blüten rechts und links. Die Schnipsel warf er in den Mülleimer, die untere Hälfte, den eigentlichen Kalender, ließ er ganz, legte ihn zur Ausrüstung auf den Tisch.
Er zog einen der Stühle zum Küchenfenster, das Licht ließ er aus, sonst spiegelte die Scheibe. Er konnte die ganze Straße überblicken, sie kam nicht. Er verschränkte die Arme auf dem Fensterbrett, hätte gern seinen Kopf auf die Arme gelegt, die Augen geschlossen. Seine Augen waren trocken vor Müdigkeit, die Augäpfel fühlten sich rau an, wenn die Lider beim Blinzeln darüberglitten, die Lidränder brannten. Sie kam nicht. Er wollte nur kurz den Kopf ablegen, ihn nicht mehr hochhalten müssen, die Muskeln in seinem Nacken waren hart, er presste die Fingerspitzen dagegen, sie gaben kaum nach, schmerzten, wenn er den Kopf zu Seite drehte. Die Augen schließen, er wagte es nicht, kurz den Kopf auf die Arme legen, er war müde und unter ihm nur leerer Bürgersteig. Er würde einschlafen, den Augenblick verpassen, in dem er handeln musste, das Fenster aufreißen, hinabrufen, hinabrufen, so laut er konnte, er räusperte sich. Er würde schlafen, und sie würde langsam die Straße entlangkommen, die Eingänge mustern, versuchen, seinen Eingang wiederzuerkennen. Es gab mehrere gelbgestrichene Häuser in der Straße, wenn sie sich an die Farbe erinnerte, müsste sie nur noch die Klingelbretter absuchen, Mildt hieß er, das hatte er ihr gesagt. Er glaubte nicht, dass noch ein Mildt in einem der gelben Häuser wohnte, aber sicher war er natürlich nicht.
Unter O fand er nichts, nicht einmal einen Verweis, sie standen unter N wie Notunterkünfte , für Berlin-Mitte war nur eine Rufnummer angegeben. Lange starrte er den Hörer an, bis plötzlich seine Hand vorschnellte, abnahm, wählte.
»Ja«, fragte eine Frauenstimme, ohne Begrüßung, ohne ihren Namen zu nennen, er überlegte, ob er auflegen sollte.
»Ist Frau Potulski bei Ihnen«, fragte er stattdessen, »Jana Potulski, sie ist Polin«, setzte er hinzu. Einen Moment war es still.
»Dazu kann ich Ihnen aus Datenschutzgründen keine Auskunft geben«, antwortete sie.
»Ich will nur wissen, wo sie abgeblieben ist, nichts weiter, sie kann bei Ihnen bleiben, ich will nur wissen, ob sie da ist«, sagte er, seine Stimme klang bittend, als würde er gleich weinen, stellte er erstaunt fest.
»Ist die Dame denn obdachlos«, fragte sie.
»Sie ist keine Dame«, antwortete er und legte auf.
Er träumte von seinem Schichtleiter. »Stimmen Sie der Aufnahme in das Schwarzfahrerregister zu«, fragte der Schichtleiter und lächelte. Er antwortete nicht, hatte sich nur gewundert, woher das Summen kam, das er unentwegt hörte. An mehr konnte er sich nicht erinnern.
Er träumte von ihr.
»Guten Morgen, Hermann«, sie stand in der Tür, sie trug kein Tablett, sie trug die blaue Tasche vor sich her, die Tasche lag auf ihren Unterarmen, ihre Handflächen zeigten nach oben.
»Ich will nicht«, sagte er, »ich will nicht«, während er sprach, versuchte er sich zu erinnern, was er nicht wollte, es fiel ihm nicht ein.
Sie sah ihn stumm an. Er trat in die Bettdecke, glatter Widerstand. Er trat ins Leere, bis seine Beine strampelten, seine Zehen ans Fußteil des Bettes stießen, er rutschte tiefer, stampfte die Wut ins Holz, das dumpfe Bullern beruhigend. Sie stellte ihre Tasche auf den Boden, blieb an der Bettkante stehen, beugte sich über ihn. Jana Potulski nahm das zweite Kopfkissen, streckte die andere Hand aus, ihre gut gepolsterte Hand, und berührte kurz seine Wange. Ihre Finger waren warm.
»Gut«, sagte sie und hob das Kissen. Vielleicht wollte sie es ausschütteln, doch es kam auf ihn zu, senkte sich weiß und bauchig. Er wollte es mit der Hand wegschieben, was tat sie denn, das Kissen war viel zu nah.
Er sog Luft ein, sog kleine Partikel, sog Staub, Stofffasern des Kissens mit ein, fühlte, wie sie schnell seine Nasenlöcher hinaufschossen, sich auf die Innenwände legten, an den Schleimhäuten klebenblieben. Er wollte nach ihr greifen, aber da war nichts, als hätte sie keine Arme, die das Kissen in sein Gesicht drückten. Er riss den Mund auf, Weiches drang in seine Mundhöhle vor, der Stoff schmeckte schal.
Als er aufwachte, konnte er nicht atmen. Er hustete, fühlte zähen Schleim in seiner Kehle, jedes Keuchen schleuderte ihn ein Stück höher. Der Schleim wanderte die Luftröhre hinauf, in seinen Rachen, in seinen Mund. Er spuckte aus, spuckte in seine Handfläche, auf dem Nachttisch lagen keine Taschentücher, er wischte die Hand an der Bettwäsche ab.
Was würde sie mit ihm anfangen? Sie würde ihn liegen lassen, weglaufen, die Haustür zuschlagen. Nein. Zuvor würde sie alles abwischen, jeden Hinweis beseitigen, dass sie jemals in seiner Wohnung gewesen war, bei ihm gelebt hatte. Die Tür würde sie leise schließen und still die Treppe hinabgehen. Sie würde ihn liegen lassen, bis die Insekten kamen. Zuerst die Fliegen, durch irgendeine Spalte würde eine Fliege in die Wohnung eindringen, war vielleicht schon da. Würde ihre Eier legen in Ohren, Nase, Mund, er würde mit offenem Mund sterben, die Zunge in den Rachen gestaucht, die Zähne gelb und trocken. Weiß getrockneter Speichel, um die Lippen, in den Mundwinkeln, im Rachen und auf der Zunge. Mit offenem Mund und offenen Augen, Einfallstore für die Insekten, unablässig ihn umkreisend, flügelschlagend, Eier legend auf ihm, über ihm, in ihm.
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