»Mir ist kalt«, sagte sie. »Gehen wir«, sagte sie. Sie drehte sich um, sah in Richtung U-Bahn-Station, braune Lehmdreiecke, strahlenförmig angeordnet, auf ihrem beigen Jackenrücken, als hätte sie auf dem Boden gesessen, auf feuchtem Lehmboden.
»Wo haben Sie geschlafen«, fragte er.
»Ich habe nicht geschlafen«, ruhig erwiderte sie seinen Blick. »Kommen Sie, gehen wir nach Hause.«
Sie hakte sich bei ihm unter, er starrte hinab auf ihrer beider Unterarme, ineinander verschränkt. Sie versuchte ihn zu ziehen, ein wenig nur, er verlagerte sein Gewicht nach hinten auf die Fersen. Drückte die Knie durch, machte sich so schwer er konnte. Sie sah ihm ins Gesicht, ihre Augäpfel gerötet, die Lider auch, die Haut darunter dunkelviolett. Müde sah sie aus.
»Warum sind Sie dann hergekommen«, fragte sie.
Er hätte die Tasche mitnehmen sollen, dann könnte er behaupten, er sei zum Fotografieren hier. Er antwortete nicht. Setzte sich langsam in Bewegung, als sie stärker zog,
»Meine Sachen sind auch noch bei Ihnen«, sagte sie, »mein Pass wird an Ihre Adresse geschickt.«
In den Straßen am Alexanderplatz drängten sich Menschen in Bürokleidung, suchten nach freien Plätzen in den Restaurants. Sie zwangen ihn, stehen zu bleiben, Frau Potulski dicht bei ihm. Sein Mantel durchweicht, die Hose klebte an seinen Schienbeinen, Frau Potulski schwieg, stand neben ihm und wartete geduldig.
»Entschuldigung«, sagte er, versuchte sich an einer Gruppe vorbeizudrängen. Als sie sich nicht rührten, drückte er einer Frau die Spitze des Schirmes in den Rücken, sie schrie auf.
»Unmöglich«, sagte er, sagte es laut. Frau Potulski entschuldigte sich leise, am liebsten hätte er den Schirm genommen und der Frau die Spitze ins Gesicht getrieben, in die hellrot geschminkte Wange.
Bei den Fahrkartenautomaten blieb er stehen, sie bemerkte es nicht, ging einfach weiter.
»Brauchen Sie keine Fahrkarte?«, rief er ihr hinterher.
Sie drehte sich um, sah ihn an, sah zum Automaten, sah wieder ihn an, er rührte sich nicht.
»Was erwarten Sie?«
»Bitte. Sagen Sie einfach bitte. Bitte, Herr Mildt, könnte ich Geld für eine Fahrkarte haben.«
Sie hielt die Hände vor ihren Mund, behauchte die Fingerspitzen, versuchte sie zu wärmen.
»Bitte, bitte, lieber Herr Mildt«, sagte sie schließlich mit Kinderstimme, legte die Handflächen vor der Brust aufeinander, senkte den Kopf und sah zu ihm hoch, »bitte, bitte, lieber Herr Mildt, bezahlen Sie mir eine Fahrkarte?«
Er antwortete nicht, berührte den Bildschirm, zwei Euro zehn , warf die Münzen ein, das Licht im Ausgabefach leuchtete auf, Jana Potulski rührte sich nicht, er machte eine Kopfbewegung in Richtung Automat, sie streckte den Arm aus, nahm die Fahrkarte aus dem Fach.
»Danke«, sagte er, »danke schön, Herr Mildt.«
Sie beachtete ihn nicht, schweigend schob sie die Karte in den Entwerter.
Die U-Bahn war voll, sie standen dicht beieinander, hielten sich an einer Stange fest. Jana Potulski gähnte, gähnte unentwegt. Er konnte schwarze Füllungen sehen, roch ungeputzte Zähne. »Hand vor den Mund«, sagte er, die anderen Fahrgäste sahen ihn an.
Sie schwieg, lehnte ihre Stirn gegen die Haltestange und schloss die Augen.
»Für mich«, fragte sie, deutete auf den Zettel an der Haustür.
»Nein«, er zog an dem Papier, die Reißzwecke blieb stecken, er würde sie später aus dem Holz ziehen müssen.
Er öffnete die Wohnungstür, ließ ihr nicht den Vortritt, es war warm im Flur, Jana Potulskis Schritte dicht hinter ihm, leise schloss sie die Tür. Er hörte den Reißverschluss ihrer Jacke, sie zog ihn herab, er tat den Schirm zum Abtropfen in die Badewanne, seine Mütze hängte er über den Wasserhahn. Frau Potulski kniete vor der Garderobe, löste die Senkel ihrer Turnschuhe, musterte die Zeitungsblätter auf den Dielen im Flur, im Wohnzimmer. Neben ihr auf dem Boden lag ihre Jacke, er hob sie auf, hängte sie an den Haken, an dem sonst der Schirm hing. Ging schweigend in die Küche, seine Schuhe hinterließen streusandbraune Abdrücke auf den Dielen, auf dem weißen Linoleum, er lehnte sich an die Spüle.
»Meine Sachen«, ihre Stimme klang erstaunt. Das Lineal war noch immer an der Tischkante ausgerichtet, Wäsche, Haarbürste, ihre Badezimmerutensilien auf Tisch und Stühlen verteilt. Sie streckte die Hand aus, schloss die Finger um ein Stück Stoff, um ihre Unterhose, so, dass sie nicht mehr zu sehen war. Sie blickte ihn an, als habe er etwas getan, etwas Schlimmes getan, ihre Hand verschwand in der Jackentasche, war leer, als sie wieder herauskam. Sie griff nach der Bürste, drückte sie gegen ihren Bauch, »was haben Sie mit meinen Sachen gemacht?«
Sie ging an ihm vorbei, strich mit der Hand über die Platte des Küchentischs, musterte seine Teetasse vom Morgen, die auf der Arbeitsplatte stand. Stellte die Tasse nicht in die Spüle, ging langsam auf den Pfarrgarten zu, blieb unter der Wäscheleine stehen und streckte eine Hand aus.
»Nicht anfassen«, sagte er.
Sie schnaubte, es klang beinahe wie ein Lachen, »ja, nicht anfassen«, wiederholte sie.
Die Tasse war halbvoll, auf dem Tee hatte sich eine dünne Haut gebildet, als er die Tasse anhob, zerfiel sie in eckige kleine Schollen, die im Licht regenbogenfarben schillerten. Er hielt die Tasse an seine Wange, der Tee war vollständig erkaltet, zögerte kurz, ob er ihn austrinken sollte, schließlich goss er ihn in den Abfluss.
Die blaue Tasche lag unter dem Küchentisch, sie hob sie auf, packte rasch T-Shirts, Hose, Pullover hinein, schüttelte den Kopf, als sie ihren Kulturbeutel unter der Hose entdeckte. Ihr Deodorant fiel heraus, rollte über den Boden, auf ihn zu, stoppte kurz vor seinen Schuhen, er bückte sich nicht. Drehte das warme Wasser auf, füllte die Tasse zur Hälfte, gab einen Tropfen Spülmittel hinein, nahm den Schwamm und begann den angetrockneten braunen Ring von der Innenwand zu reiben.
»Was Sie mit meinen Sachen gemacht haben?«, wiederholte sie, ihre Stimme lauter als zuvor.
Der Schwamm fuhr über den Tassenrand, er drehte das kalte Wasser auf und spülte den Schaum ab.
Sie tat das Deo in die Tasche, packte schnell und mit routinierten Bewegungen, sah sich um, als sie fertig war. »Verdammter Schnüffler«, sagte sie, wollte sich umwenden, wollte gehen.
»Was fällt Ihnen ein«, brüllte er. Brüllte es, so laut er konnte, Schleim wurde durch seine Luftröhre geschleudert, er musste husten, »nach allem, was Sie angerichtet haben.« Er griff nach ihr, bekam ihren Jackenärmel zu fassen, riss an ihm, riss, so kräftig er konnte, sie taumelte rückwärts in die Küche, musste sich an dem Stuhl festhalten, sonst wäre sie gestürzt.
Er ging in den Flur, er trug noch immer seinen Mantel, die Aufschläge der Ärmel nass und warm, rochen nach Spülmittel, er hatte gar nicht gemerkt, dass sie sich vollgesogen hatten, er schob die Knöpfe durch die Ösen, hängte den Mantel auf seinen Bügel. Er brauchte eine trockene Hose, trockene Socken, Pulloverkragen und Bündchen waren durchweicht, ebenso sein Hemdkragen, seine Schuhe.
»Schnüffler«, sie beugte sich vor, »perverser Schnüffler«, brüllte, ihr Mund so weit aufgerissen, dass er das Zäpfchen in ihrem Rachen hin und her tanzen sah.
»Was glauben Sie, wer Sie sind?«, er versuchte ihre Stimme zu übertönen, »und wer ich bin?«
Sie starrte ihn an, ihr Mund lächelte plötzlich. »Sie?«, sie stieß Luft aus, »Sie sind meine Strafe.« Sie lachte, als wäre es lustig, ihre Mundwinkel weit auseinandergezogen, ihre Zähne sehr weiß. »Gott ist gerecht«, sagte sie, er konnte sie kaum verstehen, sie lachte noch immer. Er wartete, wartete stumm, dass sie sich beruhigen, zu Verstand kommen würde. Sie atmete tief ein, ging an ihm vorbei, wollte in den Flur, braune Lehmdreiecke auf dem beigen Jackenrücken.
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