»Warum schreien Sie nicht«, fragte er. »Warum öffnen Sie nicht das Fenster und schreien um Hilfe?«
»Sie lassen mich eh wieder raus.«
»Sie wollen keine Polizei«, sagte er.
»Warum rufen Sie nicht die Polizei und erzählen ihr von dem Gift?«
»Sie geben also zu, dass Sie mir Gift …«
»Rufen Sie die Polizei«, sagte sie.
Die Polizei würde sie mitnehmen. Würde sie nicht bei ihm lassen, würde sie wegbringen. Er war sich nicht sicher, ob er das wollte. Sie sollte aufhören. Aufhören, ihn zu töten. Sollte es einfach zugeben. Bekennen, dass sie schlecht war, und tun, was er sagte. Mehr wollte er nicht.
»Die Polizei nimmt Sie mit«, sagte sie, »die Polizei bringt Sie in die Irrenanstalt. Schauen Sie sich doch um.«
»Mich?« Er lachte. Der Schrankinhalt war noch immer in der Küche verteilt, er könnte behaupten, sie wäre das gewesen. Er würde darüber schlafen, er könnte sie über Nacht in der Kammer lassen. Sauerstoff war kein Problem, die Ritze zwischen Tür und Rahmen sollte genügen. Er müsste jedoch die Tür öffnen, um sie mit Nahrung zu versorgen, mit Wasser. Sie würde sich gegen das Holz werfen, die Tür aufdrücken.
»Ich muss. Auf Toilette.«
Er zuckte zusammen beim Klang ihrer Stimme. Das wäre das größte Problem, er sah zum Eimer, hellblau und aus Plastik stand er neben der Spüle, nein, er müsste die Tür öffnen, ihn ihr reichen und ihn wieder in Empfang nehmen. Ekel ließ ihn schaudern, als er sich vorstellte, was im Eimer drin wäre.
Sein Körper spannte sich blitzschnell, seine Brust sehr eng von innen, eine glühende Nadel zwischen seinen Rippen. Die Tür dröhnte, schwankte leicht in den Angeln, das Schloss gab ein hartes metallenes Geräusch von sich, sie warf sich gegen die Tür, mit ihrem ganzen Gewicht gegen die Tür.
»Still, seien Sie still. Ich kann nicht nachdenken«, sagte er.
Ihre Schläge so laut, dass er seine Stimme kaum hörte.
»Hören Sie auf!« Er schlug mit der flachen Hand gegen die Tür, das Holz dröhnte, vibrierte in den Angeln, »Hör auf!« Er schlug wieder und wieder, drinnen musste es schmerzhaft laut sein.
»Ich muss«, sagte sie, als es wieder still war.
»Gleich«, antwortete er.
Es bullerte dumpf hinter ihm, als er in den Flur ging.
»Ich pinkle auf den Boden. Ich mache in Ihre Dunkelkammer«, sie trat erneut zu, »ich zähle bis zwanzig.«
Er öffnete die Geschirrschublade, sammelte sämtliche Messer zusammen, den Fleischklopfer, das Tranchierbesteck aus dem Sideboard, die Brotsäge, brachte sie ins Schlafzimmer, legte sie auf den Stuhl und schloss das Zimmer ab. Die Putzmittel ließ er stehen, er durfte nichts essen, was sie zubereitet hatte, nichts trinken, was sie in den Händen gehabt hatte.
»Seien Sie friedlich«, sagte er und versuchte, seine Stimme möglichst drohend klingen zu lassen, »ich lasse Sie jetzt raus, aber Sie sind friedlich.«
Er drehte den Schlüssel, zog den Hebel zurück, die Tür sprang auf, Jana Potulski stand direkt dahinter.
»Mein Arm tut weh.«
Ihr Arm war nicht geschwollen.
»Können Sie die Finger bewegen?«
Sie starrte weiter auf ihren Unterarm, auf das Handgelenk.
»Finger bewegen«, wiederholte er.
Sie gehorchte, ihre Hand schloss sich zur Faust und öffnete sich wieder. Plötzlich fühlte er sich erschöpft. Hätte sich gerne an sie gelehnt, ihre Wärme gespürt. Seinen Kopf auf ihre Schulter gelegt, so dass er ihn nicht alleine tragen musste, seine Augen geschlossen. Sie ging zur Spüle, drehte das Kaltwasser auf und ließ es über ihren Unterarm laufen, die Haut war gerötet.
Er legte die Regalbretter wieder auf die Winkel, sammelte die Flaschen vom Boden, die Schalen, es war erstaunlich wenig ausgelaufen. Er war müde, fragte nicht, ob sie ins Bad gehen wollte, seine Arme zu schwer, um die Hände zu ihren Brüsten zu heben.
Er nahm die Kehrschaufel, fegte die Scherben auf, hörte die Toilettenspülung, sie eilte durch den Flur, zog leise die Wohnzimmertür hinter sich zu, sagte nicht gute Nacht. Das Fotopapier war bis auf wenige Blätter intakt, auf einem, mittig, der Abdruck ihres Fußes. Er beschloss, es zu behalten, trug es leise ins Schlafzimmer und tat es zu den Fotos von ihren Sachen.
Er schloss ab, zog den Stuhl zur Tür, die Lehne passte genau unter die Klinke. Er versuchte an ihr zu rütteln, sie bewegte sich nicht, die Klinke war fest. Die Beutel hatten dicht gehalten, er nahm sie vorsichtig in die Hand. Schüttelte den Schnee von seinem Ärmel, ehe er das Fenster wieder schloss, kein Laut aus dem Flur. Nahm den Fleischklopfer aus der Nachttischschublade und legte ihn neben sich, unter die Bettdecke. Das sollte genügen, er konnte den Hammergriff an seinem Bein fühlen.
Es klingelte, klingelte an der Wohnungstür, nicht unten. Er richtete sich auf, der Klingelton war anders, die Müllabfuhr würde unten klingeln, er konnte sich an keinen Aushang erinnern, kein Stromablesedienst, keine Handwerker. Ein Nachbar, ein Nachbar konnte es sein. Wollte sich vielleicht über den Lärm der letzten Nacht beschweren. Kurz vor elf zeigte der Wecker, wütend stieß er die Decke weg, trat sie mit den Füßen zum Bettende. Polternd fiel etwas auf die Dielen, er beugte sich vor, neben dem Bett lag der Fleischklopfer. Frau Potulski hatte ihn nicht geweckt. Er schob die Füße in die Pantoffeln, seine Füße hielten inne, sie war weg. Sie hatte ihn nicht geweckt, weil sie weg war, ihm wurde kalt. Die Haustür. Er hatte die Haustür abgeschlossen, er hob das Kopfkissen, sie waren noch da, beide Schlüsselbunde glänzten metallisch auf dem Laken. Er atmete aus, lang und mit einem Laut, der wie ein Seufzen klang, fühlte, wie sein Brustkorb sich senkte, seine Muskeln sich entspannten.
Es klingelte erneut, er konnte Frau Potulskis Stimme hören, sie sprach mit jemandem, einem Mann. Frau Potulski hatte versucht, ihn zu töten, er musste auf der Hut sein. Sein Körper fühlte sich normal an, er fuhr sich über die Oberlippe, sie kribbelte nicht. Er zog den Bademantel über, konnte hören, wie sie versuchte, die Haustür zu öffnen, an der Klinke rüttelte.
»Hermann«, rief sie. Die Schlüssel lagen unter dem Kopfkissen, er versuchte, den Stuhl leise zur Seite zu schieben, so, dass sie es im Flur nicht hören konnte.
»Hermann«, sie klang ungeduldig, die Stuhlbeine schrammten hölzern über die Dielen, er schloss die Schlafzimmertür auf. Sie hatte beide Hände in die Hüften gestemmt, den Kopf schief gelegt, öffnete den Mund, um etwas zu sagen. Ihre Augen waren geschlossen.
»Ein Einschreiben«, der Mann klopfte laut an die Wohnungstür, »ein Einschreiben für Jana Potulska.«
Er schob sie beiseite, steckte den Schlüssel in das Schloss und drehte ihn. Hell war es im Treppenhaus, heller als im Flur, das Licht schmerzte in den Pupillen, er presste die Lider aufeinander. Als er sie wieder öffnete, hatte das Ziehen aufgehört.
Der Briefträger musterte ihn stumm, musterte den Bademantel, die Pantoffeln, den Schlüsselbund, den er rasch in die Tasche steckte, sein Blick blieb an den Haaren hängen. Er strich sie nach hinten. Der Briefträger hielt einen braunen Umschlag, »Jana Potulska?«
»Hier«, Jana Potulski hob die Hand, meldete sich wie ein Schulkind, er trat einen Schritt vor, versperrte ihr den Weg.
»Mildt«, sagte er, zog den Gürtel des Bademantels enger, »ich wohne hier.«
»Das Einschreiben ist für Jana Potulska«, wiederholte der Briefträger, sah an ihm vorbei in den Flur, »sie muss hier unterschreiben«, er hielt eine kleine Karte hoch.
Frau Potulski versuchte, sich an ihm vorbeizudrängen, er zögerte, ob er die Arme in den Türrahmen stemmen, ihr den Weg versperren sollte, der Briefträger runzelte die Stirn, er ließ es bleiben.
»Potulska«, sagte sie, »guten Tag.« Der Briefträger nickte, wollte ihr die Karte reichen, einen Kugelschreiber.
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