Er ließ sich in den Sessel fallen, deutete auf das Buch. Es war der Bildband.
»Der gehört mir.«
Sie betrachtete weiter die Auffahrt eines Gutshofs, die Bediensteten in schwarz-weißen Uniformen vor dem Portal aufgereiht. Er deutete auf das Bild, »alles Polen«, sagte er. Frau Potulski wich seiner Hand aus. Zog den Bildband weg, als er die Finger nach ihm ausstreckte.
»Ich werde ihn angucken dürfen«, sagte sie.
»Seien Sie still, ich muss nachdenken«, er fühlte, wie sich seine Handflächen auf seine Wangen legten, er schloss die Augen. Er bot ihr ein Bild der Ratlosigkeit, dessen war er sich bewusst. Das Gesicht in die Hände gestützt, die Ellbogen auf der Sessellehne, sein Nacken gebeugt. Schwach. Er musste das Gift finden, in ihren Taschen war nichts Auffälliges gewesen, als er sie durchsucht hatte. Sie musste es die ganze Zeit bei sich getragen haben. Und entsorgt. In der Toilette. Im Ausguss. Aus dem Fenster gestreut. Sie hatte ihm keine tödliche Dosis gegeben, er hatte nicht aufgegessen, das musste er bedenken. Dennoch, ein Gift wie Arsen, er versuchte sich an die genauen Symptome zu erinnern, eine Substanz, die nach und nach beigebracht wurde. Sie konnte es seit Tagen in seine Mahlzeiten gemischt haben. Konnte die Dosis gesteigert haben, hatte zu viel genommen, so dass es kribbelte. Wenn sie es allmählich verabreichte, dann musste es noch da sein, in der Wohnung, dann hatte sie es nicht entsorgt. Er presste sein Gesicht fester in die Handflächen. Er war wirr, Frau Potulski blätterte eine Seite um, er hörte das Papier rascheln. Er musste sich konzentrieren, systematisch vorgehen.
Von draußen waren nur die Dinge, die er eingekauft hatte, hereingekommen. Das Fleisch. Filme. Die Silberfischfallen, er dachte an die Klötzchen im Bad. Sie enthielten irgendein Insektengift.
Frau Potulski sah hoch, als er aufstand.
»Die Küche«, sagte sie.
Dieses Mal war er schneller, riss ihr den Bildband aus den Händen, sie war zu überrascht, um ihn festzuhalten, er klemmte ihn unter den Ellbogen und ging in die Küche. Sie folgte ihm, er hörte ihre Schritte hinter sich auf den Dielen, laute Schritte. Presste den Bildband seitlich gegen seinen Brustkorb, blieb am Küchenfenster stehen.
»Das Buch«, sagte sie, ihre Stimme fordernd. Sie war dicht hinter ihm stehen geblieben, er konnte ihren rasch gehenden Atem fühlen, sie war wütend. »Sie können sich ausdenken, was Sie wollen, aber Sie behandeln mich mit Respekt«, sagte sie. Er legte den Bildband auf die Fensterbank, drehte sich um. Sie stand sehr dicht vor ihm, starrte ihn an, zwischen ihren Augenbrauen zwei steile Falten.
Plötzlich schnellte seine Hand vor. Seine Hand zur Faust geballt, wie er feststellte, während die Hand auf sie zuschoss. Sein Handgelenk knackte, als die Faust ihr Brustbein traf. Jana Potulski taumelte rückwärts, verlor das Gleichgewicht, stolperte in die Dunkelkammer. Er griff nach der Tür, wollte sie ihr hinterherwerfen, mit all seiner Kraft. Die Tür krachte gegen den Rahmen, fiel ins Schloss, laut ins Schloss, die Wucht seines Stoßes lies den Schnapper zurückgleiten, und wieder vor, die Tür war zu. Er hatte sie ihr hinterherwerfen, vielleicht ihr Gesicht treffen wollen, ihre Nase, so, dass Blut aus ihr floss. Hatte sie nicht schließen wollen, hatte nicht darüber nachgedacht, doch die Tür fiel ins Schloss. So laut, dass er zuckte. Er rührte sich nicht, starrte sie an, reglos und weiß, hörte Holz, das gegen Metall stieß, rutschte, dumpf auf Holz landete, auf klapperndem Plastik, die Regalbretter, dachte er, sie war in die Regalbretter gefallen. Seine Hand schnellte vor und drehte den Schlüssel, die Tür war abgesperrt. Etwas Schweres schlug auf den Dielen auf, sie vibrierten unter seinen Sohlen. Schalen, Plastikflaschen, leere, volle, die dumpfer klangen, fielen zu Boden, fielen durcheinander, zwei Glasexplosionen zählte er.
Stille. Kein Tasten, kein Beiseiteschieben der Flaschen, Schalen, Scherben, kein Brüllen, kein Stöhnen, nichts. Er öffnete den Mund, schloss ihn wieder, lauschte. Die Küche leer, er betrachtete die weiß glänzende Tür. Sie bewegte sich nicht, schwankte nicht in den Angeln, die Küche war leer, als wäre er allein.
»Sind Sie verletzt«, fragte er schließlich. Er bewegte sich auf die Dunkelkammer zu, setzte die Schuhe behutsam auf die Dielen, als dürfte er kein Geräusch machen, als müsste er leise sein, als hätte er ein wildes Tier in der Kammer gefangen, dass jederzeit die Tür aufstoßen und ihn anfallen könnte. Er presste die Zähne zusammen, er schüttelte den Kopf. »Frau Potulski«, fragte er, die Wange beinahe an den Lack gelegt. Die Tür gab ein Geräusch von sich, als würde sie sich dagegenlehnen. Er trat einen Schritt zurück.
»Mein Arm tut weh«, sie tastete das Holz ab, suchte eine Klinke, einen Haken, irgendwas. Der Lichtschalter war in der Küche, neben der Tür. Die Tür schwankte in den Angeln, sie rüttelte daran, hatte ihre Fingerspitzen in den Spalt zwischen Tür und Rahmen geschoben, versuchte sie aufzudrücken. Er streckte die Hand aus, betätigte den Schalter, augenblicklich war die Tür ruhig. Er konnte hören, dass sie sich bewegte, sich umsah, er hörte Plastik aneinanderstoßen.
Ein dumpfer Schlag ließ ihn zurückfahren. Solange sie in der Lage war zu schlagen, konnte ihr Arm nicht so schlimm sein, entschied er. »Seien Sie still.«
Er ging rasch ins Bad, das Klötzchen war leicht, hatte eine kleine Öffnung, rasselte leise, als er es schüttelte. Als wäre es mit kleinen Steinchen gefüllt. Mit Gift. Sie waren mit Gift gefüllt. Sie hatte ein paar der Steinchen herausgeschüttelt und sie ins Essen getan, ins Püree getan, er sah es wieder hellgelb auf seinen Teller klatschen, sie hatte ihm aufgetan, hatte ihm reichlich Püree gegeben. »Zu viel«, hatte er protestiert. Er versuchte sich zu erinnern, ob sie auch von seinem Püree gegessen hatte. Von dem Schnitzel ja, er erinnerte sich an jedes einzelne Stück, das zwischen ihren Lippen verschwunden war, auf das Püree hatte er nicht geachtet.
Er sammelte die Klötzchen ein, drei lagen im Bad, er hatte zwei Doppelpackungen gekauft, das letzte fand er unter der Spüle, bei den Putzmitteln, und brachte sie ins Schlafzimmer.
Die Gefrierbeutel fand er unter einem der Stühle, das Glas mit den Clips auf der Arbeitsplatte. Er holte seinen Teller, schabte mit dem Messer Erbsen und ein Häufchen eingetrocknetes Püree in den Beutel und verschloss ihn mit dem Draht. Im Sideboard fand er weiße Etiketten, Teller 1 HM , schrieb er auf das erste, klebte es auf den Beutel. Auf das nächste schrieb er Teller 2 JP , der Beutel war um einiges voller, ein halbes Schnitzel, Sauce, Püree, Erbsen, durcheinander, es sah aus wie Erbrochenes.
»Was machen Sie?«, hörte er sie fragen, als er ihren Teller abkratzte. »Hermann!«, laut und hart, als er das restliche Püree aus der Schüssel umfüllte. Danach die Erbsen, die Sauce, jeweils in einen Beutel, er hoffte, die Clips verschlossen sie ausreichend. Hoffte, sie würden nicht auslaufen, trug die Beutel ins Schlafzimmer, öffnete das Fenster und legte sie in die dünne Schneeschicht auf der Fensterbank, um sie zu konservieren.
Er zog einen der Küchenstühle zur Kammer, stellte ihn mit der Lehne zum Fenster und setzte sich. Müsste nur den Arm ausstrecken, um die Tür zu berühren, er wartete. Wartete, dass sie anfangen würde zu schreien, nach Hilfe vielleicht, krakeelen würde, stampfen würde, die restlichen Regale von der Wand reißen würde, auf dass die Nachbarn kämen. Wartete auf das Geräusch des Fensterriegels, das leise Quietschen der Angeln, wenn sie es öffnete, um ihren Kopf durch die schmale Öffnung zu schieben oder einen Arm, zum Winken, zu den Passanten hinab. Um hinunterzurufen, dass er sie festhielt. Die Tür nicht öffnete. Er sah zum Schloss.
Es war still. Viel zu still.
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