Sie drehte sich um, zuckte ein wenig zurück, hatte ihn nicht kommen hören.
»Tisch decken«, mit dem Kinn deutete sie auf zwei Teller und Besteck, gestapelt auf dem Küchentisch. »Drüben«, sagte sie und holte wieder aus. Der Lärm tat weh, er wollte seine Ohren mit den Händen bedecken, stattdessen nahm er den Geschirrstapel und trug ihn ins Wohnzimmer.
Seine Oberlippe kribbelte. Es war nicht unangenehm, kitzelte eher, er fuhr sich mit dem Handrücken über die Lippen, das Kribbeln blieb. Das Schnitzel schmeckte gut, er träufelte etwas Zitrone über den nächsten Bissen, schob ihn in den Mund. Nicht zäh, er kaute, seine Oberlippe kribbelte. Kleine kalte Stiche, winzig kleine Schläge, es fühlte sich an, als hätte er falsch gelegen oder falsch gesessen, und ein Bein, ein Arm wäre eingeschlafen, würde nicht ausreichend durchblutet. Nur dass es seine Oberlippe war, die kribbelte, er versuchte, eine Grimasse zu machen, seine Lippe fühlte sich kalt an, schwerfällig, als wäre sie fast erfroren, als hätte er zu lange im Wind gestanden. Frau Potulski hatte mitten im Fleischschneiden innegehalten und sah ihn an. Es war nicht unangenehm, kitzelte vielmehr, er kaute den Bissen zu Ende, schluckte.
Das Kribbeln breitete sich aus, überzog seine Unterlippe, seine Mundwinkel, bildete bald einen Ring, hinab bis zum Kinn. Sprang über auf seine Schulter, wie Flammen übersprangen, nur dass es kalt war. Kleine, kalte Stiche, seinen Oberarm hinab, machten nicht am Ellbogen halt, wanderten den Unterarm entlang, bis zu seiner Hand. »Schmeckt es?«
Er sah auf, Jana Potulski beobachtete ihn.
»Sie sind bleich«, sagte sie.
Er schüttelte stumm den Kopf, seine Hand hielt noch immer die Gabel, kühles Metall zwischen seinen kribbelnden Fingern. Er umfasste den Griff fester, stach die Gabel erneut in das Schnitzel, als wollte er ihr beweisen, dass alles in Ordnung war, hörte die Panade knirschen, die Zinken bohrten sich ins Fleisch. Sah zu, wie die andere Hand mit dem Messer ein Stück abschnitt, das Kribbeln schien ihre Funktionstüchtigkeit nicht einzuschränken. Er hob die Gabel, ließ das aufgespießte Fleisch nicht aus den Augen, führte die Gabel zum Mund, öffnete die kribbelnden Lippen, öffnete sie ohne Probleme. Er konnte die Panade rau auf der Zunge spüren. Sie hatte etwas reingetan. Ins Fleisch gemacht. Der Gedanke kam so plötzlich, dass seine Hand zurückzuckte, die Zinken gegen seine Zähne stießen, als er die Gabel aus dem Mund zog. Er beugte sich vor, öffnete den Mund und ließ den angekauten Bissen auf seinen Teller fallen.
»Verbrannt?«
Sie strich mit dem Messer Püree auf eine aufgespießte Möhre, aß ruhig weiter. Er ließ den Griff der Gabel los, sie fiel laut auf den Tisch.
»Was haben Sie mit dem Fleisch gemacht?«
Er hob den Arm, wollte seine Oberlippe betasten, der Arm bewegte sich nicht. Er sah hinab, sein Unterarm lag auf dem Tisch, die Handfläche seltsam nach oben verdreht, er spannte die Muskeln, meinte zu fühlen, wie sie hart wurden. Der Arm blieb reglos liegen. Er konnte ihn sehen, sein Unterarm, seine Hand lagen vor ihm auf dem Tisch, er konnte ihn sehen, bewegen konnte er ihn nicht. Nicht einmal ein Zucken, nicht einmal in den Fingerspitzen, ein winziges Zucken, nein, die Hand lag still da, als wäre es nicht seine.
»Salz, Pfeffer, in Mehl gewendet«, sie bewegte ihre Hände, als würden sie etwas umdrehen, »in Ei, in Panade und dann gebraten.«
Hand , wollte er sagen, »Utuk«, es hörte sich an wie utuk, stellte er erstaunt fest. Ich kann meine Hand nicht bewegen, »Hesnnnnennenn«, etwas stimmte mit seinen Ohren nicht.
»Was?«
Frau Potulski sah ihn an, nein, seine Ohren waren in Ordnung. Sie hatte die Augenbrauen hochgezogen, Frau Potulski hatte ihn vergiftet. Er konnte keinen Schmerz fühlen, nur das Kribbeln, konzentrierte sich auf seinen Magen, keine Schmerzen, keine Krämpfe. Musste herausfinden, was sie genommen hatte. Ein Krankenwagen, er brauchte einen Krankenwagen, öffnete den Mund, sog Luft ein, es klang wie ein Stöhnen. Seine Zunge war ein lederner Lappen geworden, taumelte hilflos durch seinen Mund.
»Sie rutschen«, sagte sie, »Sie rutschen von Ihrem Stuhl.«
Das Zimmer war plötzlich schief, die eine Seite senkte sich, die Tischplatte schräg, sie kam näher. Er bewegte sich auf seinen Teller zu, seinen reglosen Arm, er sackte nach rechts, griff mit der anderen Hand nach der Sitzfläche. Schloss die Finger um das Polster, sie gehorchten ihm anstandslos, er krallte die Nägel hinein. Das Zimmer war nach wie vor schief, doch es hörte auf zu sinken.
Das Kribbeln hatte nachgelassen, er fühlte es noch immer im Arm, um den Mund herum, aber die kleinen Stiche waren weniger scharf. Auf einmal konnte er die Tischplatte fühlen, die Härte des Holzes unter seinem rechten Unterarm. Er drückte dagegen, sein Oberkörper richtete sich wieder auf. Er saß wieder gerade, hatte sich mit dem Unterarm hochgedrückt, fühlte ihn wieder. Er sah hinab, ängstlich, die Finger gehorchten. Zogen sich zusammen, seine Hand sah aus wie eine Klaue, er hob sie an, mühelos. Als wäre sie nicht eben noch ein Gegenstand, nicht anders als der Tisch oder sein Teller gewesen.
Sie hatte das Kind vergiftet. Es war plötzlich krank geworden, hatte sie gesagt. Sie hatte das Kind vergiftet, und sie hatte ihn vergiftet. Die Substanz wirkte auf sein zentrales Nervensystem, Lähmungserscheinungen, Sprachstörungen, spastische Krämpfe, Worte, die er vor Jahren in der Ausbildung gelernt hatte, tauchten auf. Er musste es rausholen, aus seinem Körper herausholen, das Gift war in seinem Magen, seinen Armen, seiner Zunge. Es würde sich weiter ausbreiten, er musste sich einen Finger in den Hals stecken oder zwei. Wortlos ging er ins Bad, noch immer keine Krämpfe, die Tür ließ er offen. Zog den Vorleger vor die Toilette, stützte sich auf dem geschlossenen Deckel ab, als er sich hinkniete. In den Ecken lagen helle Plastikklötzchen auf den Fliesen, sie hatte die Fallen für die Silberfische aufgestellt. Er klappte Deckel und Brille nach oben, sah in die Schüssel, das Wasser war klar. Er versuchte sich Jana Potulskis Gesäß vorzustellen, auf die Brille gepresst, versuchte sich vorzustellen, wie sie den Darm entleerte, wie Kot in das Wasser platschte, ihm wurde nicht übel. Er öffnete den Mund, hatte die Hände nicht gewaschen, seine Finger schmeckten bitter. Er schob sie tiefer hinein, seine Zunge war rau und feucht, steckte sie weiter hinein, bis er etwas Krauses fühlen konnte, seinen Rachen, weich und sehr verletzlich.
»Alles gut«, fragte sie.
Weg, sie sollte ihn in Ruhe lassen, er drehte sich nicht nach ihr um, machte eine Handbewegung, sie sollte weggehen.
»Ist Ihnen übel?«
Er würgte, Luft entwich seinem Magen, er rülpste laut, Speichel lief in seinen Mund, sehr flüssiger Speichel, lief über seine Lippen, tropfte in die Toilettenschüssel. Sein Magen presste sich zusammen, hob sich, er fühlte, wie der Inhalt die Speiseröhre hinaufgedrückt wurde, in die Mundhöhle, an den Zähnen vorbei, er schmeckte Schnitzel und Magensäure, öffnete den Mund weit. Ein Schwall Lebensmittelbrei klatschte in die Schüssel, lief das Porzellan hinab ins Wasser. Er fühlte etwas auf seinem Rücken, warm, sie hatte ihre Hand auf seinem Rücken, strich auf und ab, als wollte sie ihn trösten. Er stieß mit dem Ellbogen nach ihr, verfehlte sie weit.
»Sie können das gut«, Luft stieg seine Speiseröhre hinauf, er rülpste erneut, »schauspielern«, sagte er. Er ließ sich auf die Fersen sinken, sah ihr ins Gesicht, sie starrte zu ihm herab, schien nicht zu wissen, was sie sagen sollte. Er schüttelte den Kopf, »ich falle nicht darauf rein.« Seine Finger rochen säuerlich, Magensaft und Speisebrei klebten an ihnen. Frau Potulski beugte sich vor, zog an der Spülung, er wich vor der Toilette zurück. »Schlau«, sagte er, starrte in das strudelnde Wasser, »Beweis vernichtet.«
Читать дальше