In mein Notizbuch schrieb ich: Wer ist Paige? Wie kann ich sie überreden, mit mir zu sprechen? Ich schrieb: Warum hatte Joe überhaupt zugestimmt, den Laden zu übernehmen? Wollte er nicht seit seinem elften Lebensjahr Fotograf werden? Ich schrieb: Annies Lachen, Zachs Zehen. Wir schneiden Lavendel ab und hängen ihn in der Scheune auf. Annie ist von einer Biene gestochen worden, weint und sagt: »Wenigstens macht dieses Miststück auch Honig.«
Ich konzentrierte mich darauf, eine Wohnung zu finden und positiv gestimmt zu bleiben. Ich wollte zeigen, wie stark und hartnäckig ich sein konnte, und falls Paige nicht darauf reagierte, würde vielleicht ein Richter meine Bemühungen anerkennen und belohnen.
Ich hinterließ weitere Nachrichten für Paige. »Ich werde in Kürze eine Wohnung haben. Ich würde gern mit Ihnen sprechen. Sagen Sie bitte den Kindern, dass ich angerufen habe und sie liebe.« Ich schickte auch Briefe und hoffte, dass sie den Kindern wenigstens die nicht vorenthielt.
Schließlich fand ich ein erschwingliches Apartment mit Swimmingpool, wo auch ein Hund erlaubt war – diese drei Kriterien waren das einzig Erwähnenswerte. Paige hatte einen Pool, und ich wollte, dass sich die Kinder auch bei mir abkühlen konnten. Außerdem musste Zach seine Angst – gepaart mit der Faszination – vor Wasser überwinden und schwimmen lernen.
Ich saß in der leeren Wohnung auf meinem Schlafsack, an den Wänden nichts weiter als den Stadtplan von Las Vegas, den Clem Silver mir gegeben hatte, und die Karte mit Picknickplätzen aus unserem Laden.
Eines Abends rief David an und erzählte, dass der Laden besser lief als zuvor, aber – noch – nicht gut genug. Seit Wochen regnete es, und er wollte eine Anzeige mit besonderem Augenmerk auf Kamin und Wintergarten schalten. Zudem überlegte er, einen Musiker zu engagieren, der bereit war, nur auf Trinkgeldbasis zu spielen. Gina überlegte wegzuziehen, so dass sie wahrscheinlich nicht mehr lange im Laden aushelfen konnte. Trotzdem war er guten Mutes.
»Du bist vollkommen in deinem Element«, sagte ich, noch nicht so weit, ihm von der Mietwohnung zu erzählen, zumal er so gute Laune hatte.
»Stimmt genau. Lass den Mann in Bolognesesauce schwimmen, und er ist glücklich.«
»Eines verstehe ich nicht, David. Warum hatte Joe den Laden übernommen? Er wollte ihn doch gar nicht, er wollte Fotograf werden. Aber du wolltest ihn, stimmt’s? Seit du ein kleiner Junge warst. Joe hatte diesen ganzen Joey’s Laden/Davy’s Laden-Wettstreit irgendwann hinter sich gelassen, aber du nie. Hab ich recht?«
Er stieß einen Seufzer aus. »Ja, hast du. Ich hab zwar so getan als ob, aber nur, um meine riesige Enttäuschung und das Gefühl, abgelehnt zu werden, nicht zu zeigen. O Gott, der Gesprächsstoff reicht für eine ganze Oprah -Show, El, aber leider habe ich heute Abend noch einen kleinen Catering-Job.«
»Du machst auch noch Partyservice?«
»Das ist mein erster Versuch, aber was soll’s, was immer die Kasse zum Klingeln bringt …« Er versprach mir, das Gespräch zu einem späteren Zeitpunkt fortzusetzen.
Ich saß draußen auf meinem Balkon und dachte an Joe und mich auf unserer Veranda in Elbow. An die Tage, wenn am Morgen der dichte Hochnebel die Wipfel der Redwoods umwaberte, deren Stämme so hoch waren, dass selbst die aus dem Wolkenteppich ragenden Spitzen wie ausgewachsene Bäume aussahen. Ich stellte mir vor, dass unser Haus – warm wie frisch gebackenes Brot – oben im Himmel schwebte, mit dem strahlend blauen Firmament über uns, während all jene, die unter der Nebelgrenze wohnten, den gleichen Moment als graue Entbehrung erlebten. Und dann hatte ich einen Anflug von schlechtem Gewissen, weil unser kleines Haus auf dem Hügel in Licht, Seligkeit und Glück gehüllt über allem thronte – denn so hatte ich es manchmal empfunden.
Jetzt saß ich hier an einem heißen Abend, und der Schein der Leuchtreklame vom gegenüberliegenden Parkplatz tauchte meine Haut abwechselnd in grünes und blaues Licht. Unter mir – ich wohnte im ersten Stock – wartete schnaubend und dampfend die Autoherde auf den Wechsel der Ampel, um sofort loszusprinten und einen Block weiter wieder vor dem roten Licht zu stehen.
Ein paar Tage später rief David wieder an. Er fragte, ob ich Thanksgiving nach Hause kommen würde, was bedeutete, dass ich ihm von der Wohnung erzählen musste.
»Du lebst in Las Vegas?«
»Na ja, sterben tue ich hier nicht, jedenfalls nicht ganz. Ich bin an ein Atemgerät angeschlossen, das mich gegen die Schäden durch Passivrauchen schützt.«
»Du weißt, was ich meine.«
»Also ein Zuhause ist es sicher nicht, aber ich bleibe länger als geplant. Paige weigert sich, mit mir zu reden – jedenfalls im Moment. Ich muss einen Weg finden, um zu ihr durchzudringen, aber sie ist immer noch stocksauer. Ich muss ihr also Zeit lassen. Und es hilft meiner Psyche, zu wissen, dass ich nur vierzehn Minuten von Annie und Zach entfernt bin.«
David sagte, er hätte sich schon gedacht, dass es eine Weile dauern würde, und ich solle mich nicht unter Druck setzen. Ich erkundigte mich nach Marcella und Joe, doch er sagte nur: »Na ja, du weißt schon … sie warten.«
Die beiden fehlten mir. Ich vermisste die üppigen Mahlzeiten bei ihnen und die herzlichen Umarmungen, Marcellas lautes Singen und Joe seniors lautes Fluchen und wie ihre Gesichter aufleuchteten, wenn die Kinder in den Raum kamen.
Und ich vermisste Elbow. In der ganzen Stadt waren jetzt sicher kollernde Truthähne zu hören, die morgens sogar manchmal auf Autodächern saßen. Oder sie stolzierten mitten auf der Straße, die Männchen mit aufgefächerten, riesigen Schwanzfedern, stolzer als Pfauen. »Hi, Kumpel«, hatte ich sie immer gefragt, »solltet ihr euch um diese Jahreszeit nicht besser verstecken?«
Doch am meisten fehlten mir die Kinder. An Thanksgiving rief ich meine Mutter an. Sie hatte das Haus voller Leute, gab wie jedes Jahr ihr »Heimatlosen«-Dinner für alle ihre Freunde, deren Familien nicht in der Gegend wohnten. Sie hatte angeboten, zu mir zu kommen oder dass ich zu ihr käme, aber das wollte ich nicht. Im Stillen hatte ich – oder die unverbesserliche Optimistin in mir – wohl gehofft, dass Paige mich anrufen oder zumindest ans Telefon gehen würde, als ich sie zu erreichen versuchte – dass sie jetzt alles in einem anderen Licht sehen und mich einladen würde.
Callie und ich machten einen Spaziergang, wobei ich mir unterwegs in einem Lebensmittelladen eine Portion Truthahn, eine Portion Kartoffelpüree mit Soße, eine Portion Brotfüllung und eine Portion Cranberries kaufte – alles in Kunststoffbehältern verpackt. Das Gefühl der Verzweiflung ließ mich nicht los. Es war Thanksgiving, und Paige ging nicht ans Telefon. Seit sie die Kinder in Elbow abgeholt hatte, hatte ich nicht mehr mit Annie und Zach gesprochen.
Zurück im Apartment, rief ich David an, doch auch er hatte einen schlechten Tag gehabt: einen Streit mit Gil, ein deprimierend schweigsames Abendessen am Tisch der Capozzis, mit zu vielen leeren Stühlen und zu viel übriggebliebenem Essen.
»Genaugenommen«, sagte er, »geht’s mir absolut beschissen.«
»O je, das hört sich ja gar nicht gut an. Vielleicht sollten wir dann da weiterreden, wo wir das letzte Mal aufgehört haben – dass du dich damals total abgelehnt gefühlt hattest.«
»Wow, das ist eine echt subtile Annäherung an das Thema.«
»Tut mir leid, David. Aber könntest du … würde es dir etwas ausmachen, mir zu erzählen, was damals passiert ist?« Ich hatte sogar mein gelbes Notizbuch aufgeschlagen, um mitzuschreiben. Langsam entwickelte ich mich zur Nervensäge.
»Ja, es macht mir was aus, ich tu’s aber trotzdem. Anscheinend glaubst du, dass es dir hilft, die Dinge besser zu verstehen.«
Ich erzählte ihm, dass es momentan einiges gäbe, das ich zu verstehen versuchte, auch hinsichtlich seines Bruders. Dass ich mir davon erhoffte, besser mit Paige kommunizieren und endlich Annie und Zach sehen zu können, was mein größtes Anliegen war.
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