Als wir uns Las Vegas näherten, wachte Callie auf und bellte die nicht enden wollenden Leuchtreklamen an – obwohl sie noch weit weg waren. Schon bald glichen sie einem Feuerwerk, dem man viel zu nah gekommen war und das mein erhitztes Gesicht mit blinkenden, laufenden und flackernden Farben überzog.
Doch die Lichter verloren schon am nächsten Morgen ihren Glanz, als ich einen unverstellten Blick auf den Strip hatte. Da wurde mir bewusst, dass sie bloßer Ersatz waren und mich für die Tatsache blind machen sollten, dass es hier kein Fitzelchen natürliche Schönheit gab oder auch nur sonst irgendwas Natürliches. Nirgendwo. Das einzige bisschen Grün bildete eine Reihe gepflanzter Palmen in der Mitte des Strip. Als ich vor einer roten Ampel stand, beobachtete ich einen älteren Mann und eine viel jüngere Frau, die in ihrem schwarzen Cabrio Kokain schnupften. Er gab ihr den gerollten Geldschein und den Spiegel und hielt ihr langes schwarzes Haar zurück, während sie das weiße Pulver einsog. Ob Annie und Zach so etwas auf dem Schulweg sahen? Wie hatte Paige bloß von Elbow – mit seinen saftig grünen, über und über mit Bäumen bewachsenen Hügeln, die bis hinunter zum Fluss reichten – hierher ziehen und dann auch noch die Kinder hierherholen können? Ich konnte mir Annie und Zach an diesem Ort nicht einmal vorstellen, geschweige denn, dass sie ihn Zuhause nannten.
Aber, gemahnte ich mich, nicht für jeden war Elbow ein Utopia. Die verregneten Winter hatten Paige zugesetzt und ihre Depressionen verschlimmert, wie sie schrieb. Sie wollte es warm und trocken haben. Doch der gewichtigste Grund, das wusste ich aus den Briefen, war, dass sie außer zu ihrer Tante Bernie, die in einer Wohnwagensiedlung am Rande von Las Vegas wohnte, nirgendwo hatte hingehen können. Eine Tante, die sie liebte, so wie sie war, hatte Paige geschrieben. Daran musste ich denken, als ich auf die Schnellstraße bog und nicht wusste, wohin ich fahren oder ob ich sie vielleicht anrufen sollte. Die Straße war von unzähligen Reklamewänden gesäumt, unter denen jedoch eine hervorstach. War das wirklich wahr? Ich beugte mich übers Lenkrad und starrte sie an. Ja, bei Gott, das war sie. Da stand Paige mit verschränkten Armen, drei Meter groß, im smarten Kostüm und das knappe Lächeln wurstplattengroß. SIE WOLLEN IHR OBJEKT IM RICHTIGEN LICHT PRÄSENTIEREN? RUFEN SIE MICH AN. Der gleiche Spruch wie auf ihrer Visitenkarte, die gleiche Telefonnummer, die ich die ganze Woche angerufen hatte. »Mannomannomann«, sagte ich zu Callie, deren Pfoten auf der Konsole zwischen unseren Sitzen lagen und die mich kopfwackelnd aus neun verschiedenen Richtungen ansah. Es schien, als entdecke ich jedes Mal, wenn ich etwas an Paige verstand oder Mitleid mit ihr bekam, eine neue Seite an ihr. Wer war diese Frau, die sich selbst auf einer Werbewand präsentierte? Vielleicht hockten sich ja Tauben oben drauf und bekleckerten sie mit Columbia livia -Scheiße.
Dennoch, deutlicher konnte eine Aufforderung wohl kaum sein. Ich tippte die Telefonnummer in mein Handy. Wie immer nahm Paige nicht ab, und so hinterließ ich die Nachricht, ich sei in der Stadt. Diesmal rief sie mich sofort zurück.
»Sie sind in Las Vegas?«, fragte sie.
»Japp.« Ich versuchte mich locker, ja sogar heiter zu geben. »Nette Werbewand.«
»Oh, das – die Fläche hab ich für einen guten Preis bekommen. Ich hab schon eine Menge Anrufe deswegen gekriegt.«
Ich verkniff mir ein jede Wette .
»Warum sind Sie hier?«
»Also nicht, um ins Casino zu gehen. Ich möchte die Kinder sehen.«
»Ella. Das ist rücksichtslos gegenüber Annie und Zach, für die das alles eine riesige Umstellung ist. Der Richter wusste genau, was er tat, als er Ihren ersten Besuch auf vier Wochen nach der Trennung festlegte. Sie leben nicht hier. Warum wollen Sie sie jetzt so verwirren?«
»Muss ich Sie daran erinnern, dass der Richter kurz davor war, eine ganz and–«
»Nein, das müssen Sie nicht. Hören Sie, Ella, ich bitte Sie um nichts anderes als Zeit. Und ich glaube, Sie brauchen auch Zeit, um sich in einem Leben ohne Annie und Zach einzurichten.«
»Aber Sie schließen mich aus! Sehen Sie denn nicht, dass Sie das Gleiche tun, was Joe Ihnen angetan hat?«
»Ich denke in erster Linie an die Kinder.«
»Und warum haben Sie sie mir dann weggenommen? Wir waren glücklich …« Meine Stimme versagte, aber ich riss mich zusammen, würde Paige nicht ins Ohr heulen. Außerdem fuhr ich Auto und hatte einen Sattelschlepper im Nacken.
»Gehen Sie nach Hause, Ella. Warten Sie einen Monat, dann rufen Sie uns an.«
»Wer sagt denn, dass ich nicht zu Hause bin?«, kam es aus mir heraus.
Sie seufzte. »Sie haben also eben gelogen, als Sie sagten, dass Sie hier sind?«
»Nein. Aber vielleicht bin ich ja hergezogen.« Habe ich das wirklich gerade gesagt?
Schweigen.
»Paige? Können Sie mich hören?«
»Ja.«
»Und, kann ich die Kinder jetzt sehen?«
»Sie können sie in zweiundzwanzig Tagen sehen, wie vom Richter festgelegt. Auf Wiedersehen, Ella.« Sie legte auf, bevor ich etwas erwidern konnte.
Das war ja echt prima gelaufen. Ich fuhr von der Schnellstraße ab und machte an einem kleinen Lebensmittelladen halt, um mir eine Las Vegas Sun zu holen. Auch die Packung Eiscreme musste sein, die ich mangels Gefrierfach in meiner Absteige auf einmal essen würde – meine Version eines gefährlichen Lebens in Las Vegas.
Auf dem Weg zur Kasse fiel mein Blick auf gelbe Notizbücher. Sie waren größer als die, die ich vor dem Tod meines Vaters immer mit mir herumgetragen hatte, aber sonst sahen sie genauso aus, mit Spiralbindung am oberen Rand. Als ich in den leeren Seiten blätterte, musste ich an das wissbegierige kleine Mädchen mit dem Fernglas um den Hals denken, das immerzu wer, was oder warum gefragt hatte. Nach jahrzehntelangem Schlaf war es vor ein paar Wochen endlich wieder aufgewacht und hatte gleich für Unruhe gesorgt und auch schlimmen Schaden angerichtet. Aber verdammt nochmal, ich liebte dieses Kind. Es war ein gutes Kind, das mir schon einiges beigebracht hatte. Und es brauchte ein Notizbuch.
Obwohl ich Las Vegas furchtbar fand, hatte ich Paige erzählt, ich sei hierhergezogen – wobei ich v orübergehend allerdings unterschlug. Ich hasste die Vorstellung, dass Annie und Zach in einer Stadt aufwachsen sollten, die für ihre Spielcasinos, für Drogen und Prostitution bekannt war. Doch noch schlimmer als das war der Gedanke, sie würden hier ohne mich groß werden – oder ich würde ohne sie nach Elbow zurückkehren. Nach meinem ersten Telefongespräch mit Paige zu urteilen, würde sich hier so schnell nichts bewegen. Ich hatte drei Möglichkeiten, von denen mir keine einzige gefiel. Aber ein Ort war nur ein Ort, und dass Elbow mir fehlen würde, damit konnte ich leben. Jedenfalls vorübergehend. Ich schlug den Anzeigenteil der Zeitung auf und fing mit der Wohnungssuche an, schrieb Adressen in mein Notizbuch. Ich musste die Zeit totschlagen und wollte, dass Annie und Zach sich zu Hause fühlten, wenn sie mich besuchten, und nicht mit ihnen in einem billigen Motel auf einem Bett hocken.
Ich ging jeden Tag stundenlang mit Callie spazieren, sah mir verschiedene Stadtteile an, in denen ich vielleicht eine Wohnung finden würde, und verweilte auf jedem Stück Grün in den neuen, gepflegten kleinen Parkanlagen. Der Wind blies Staub und Schmutz umher und rollende Buschkugeln, die mit Pappbechern, Zigarettenschachteln und Plastiktüten gespickt waren. Die Sonne brannte auf uns hinab, so dass wir oft Pausen machen und viel Wasser trinken mussten. Ich sehnte mich nach Elbow, dem Garten und den Hühnern, dem kühlen Fluss und dem Picknickladen – aber noch mehr nach Annie und Zach.
In den Unterlagen vom Gericht stand Paiges Adresse, und ich fuhr an ihrem Haus vorbei. Es lag in einem städtischen Viertel in einer neuen Wohnsiedlung, mit einer einzigen kleinen Birke in jedem Vorgarten. Das große stuckverzierte Haus stand auf einem winzigen Grundstück, umgeben von ähnlichen Häusern in A-, B-, C- oder D-Ausführung. Sosehr mich die rote Tür – absolut Fengshui – zum Anklopfen animierte, verkniff ich es mir doch. In weniger als zwei Wochen hatte ich Besuchserlaubnis, und mit so etwas wollte ich den Besuch der Kinder in meiner Wohnung nicht gefährden.
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