Du hast ja keine Ahnung , wollte ich sagen, doch tat es nicht. Ich schnallte die Kinder in ihren Sitzen fest, wie ich es immer machte, ich küsste sie und drückte sie und wischte ihre Tränen und laufenden Nasen mit dem Ärmel ab. Ich sagte ihnen, dass ich sie schon bald wiedersehen und sie heute Abend anrufen würde.
Paige und ich hoben kaum merklich die Hand. Sie ließ den Wagen an. Zach schrie jetzt: »Ich … will … meine … MOMMY«, immer und immer wieder, und wir standen stumm winkend da, lauschten seinem Schreien, das leiser und leiser wurde, und schließlich waren Zach und Annie verschwunden.
Nach und nach kamen alle die Veranda herunter. Frank und Lizzie und Lucy boten an zu bleiben, doch ich schüttelte nur den Kopf. Joe senior wandte sich mir zu und stieß zwischen zuckenden Lippen hervor: »Wenigstens die Schuhe hättest du Zach anziehen können. Kein Mann sollte seine Familie in Hausschuhen verlassen.« Ich wusste nicht, warum die Schuhe so wichtig waren, das schien mir momentan die geringste Sorge. David umarmte mich flüchtig, mit einem Klaps auf den Rücken – nichts im Vergleich zu den herzlichen Umarmungen, die wir sonst austauschten. »Nimm dir eine Auszeit im Laden, wir kümmern uns darum«, sagte er. Ich wusste, dass auch sie eine Auszeit von mir brauchten. Marcella ging, ohne mich eines Blickes zu würdigen.
Sobald alle weg waren, flüchtete ich ins Kinderzimmer. Callie trottete hinter mir her. Ich schloss die Tür hinter uns, warf mich auf Annies Bett und vergrub das Gesicht in ihrem duftenden Kissen. Ich heulte hemmungslos, wie Zach, fühlte den Schmerz seiner Schreie, den ich nicht lindern konnte, in meinem eigenen Körper wüten. Callie kläffte, als litte auch sie. Die Tränen kamen tief aus meinem Innersten, ich war ihnen machtlos ausgeliefert und konnte nicht aufhören zu weinen. Dreimal wählte ich Paiges Handynummer, doch sie nahm nicht ab.
Callies Bellen, gefolgt von einem heftigen Klopfen an der Haustür, weckte mich. Desorientiert tastete ich nach meinem Wecker, der nicht an seinem üblichen Platz war, dann fiel mir ein, dass ich in Annies Bett lag. Ich hatte noch immer meine Kleider an, und jetzt erinnerte ich mich auch, warum. Das Klopfen ging unvermindert weiter, und während ich aus dem Bett stieg, erlaubte ich mir die Phantasie, Paige wäre mit Annie und Zach zurückgekommen, um mir zu sagen, dass sie einen furchtbaren Fehler gemacht habe. Doch es war bloß der Zusteller von UPS mit einem Paket für die Kinder, das Paige vor einer Woche abgeschickt hatte. Anstatt es anzunehmen, strich ich die Adresse durch und schrieb Zurück an Absender drauf.
Paige ging immer noch nicht ans Telefon. Ich hinterließ eine Nachricht. Ich hinterließ vier Nachrichten in den nächsten vier Stunden. Die drei Anrufe an diesem Tag kamen von den wenigen Menschen, die noch mit mir sprachen: meine Mutter, Lizzie und Lucy – doch nicht einer von den Kindern. Ich erkannte die Nummern auf dem Display, nahm aber nicht ab, wollte das Telefon freihalten, falls die Kinder mich zu erreichen versuchten. Meine Mutter und Lizzie sagten, dass sie an mich dachten und ich sie anrufen sollte, falls mir nach Reden sei. Lucy hinterließ die Nachricht, dass sie am nächsten Tag nach der Arbeit zu mir kommen würde, und versprach, keine Fragen zu stellen.
Meine einzigen Pflichten waren Callie, die Hühner, Ding Eins und Ding Zwei zu füttern, den Hühnerstall und das Katzenklo sauber zu machen und Unkraut zu rupfen. Und das tat ich. Callie versuchte immer wieder, mich zu einem Spaziergang zu bewegen, stupste mich mit der Schnauze ans Bein, brachte mir die Leine oder legte den Kopf zur Seite und sah mich traurig an, was normalerweise meinen Widerstand brach. Doch ich hatte weder die Kraft dazu, noch wollte ich irgendeinem Menschen begegnen.
Ich ging durchs Haus, die schlafenden Kätzchen wie Babys in den Armen, und alles, was ich sah, bereitete mir einen stechenden Schmerz: Die Fotos der Kinder, ihre Spielsachen, ihre Kunstprojekte. Die Tonvase auf dem Bücherregal, die ich von Annie zum Muttertag bekommen hatte, mit dem abgefallenen Nudel-M von Happy Mother’s Day . Und erst jetzt, am Tag, an dem sie gegangen waren, las ich, was wirklich da stand: Happy other’s day – Herzlichen Glückwunsch zum Tag der anderen .
Der Kühlschrank sprang brummend an, die Uhr tickte, das Holzscheit im Kamin brach krachend auseinander. Ich saß auf dem Sofa und zappte mich stundenlang durchs Fernsehprogramm, bevor ich zufällig auf TV Land stieß, einen Fernsehkanal, der nur Serien aus den Sechzigern und Siebzigern zeigte. Ich sah mir Drei Mädchen und drei Jungen , die Partridge Familie und Room 222 an. Diese Serien hatte ich nach dem Tod meines Vaters mit geradezu fanatischer Hingabe angesehen und mich gefragt, warum meine Mutter nicht so wie Shirley Partridge sein konnte, warum meine Eltern nicht noch mehr Kinder hatten, damit ich mit meinen Geschwistern auch eine Rockband gründen konnte.
Ich ließ Callie hinaus und überlegte, wieder Annie und Zach anzurufen, doch es war neun Uhr abends. Sie schliefen schon tief und fest in ihren neuen Zimmern. Es war ihr erster Tag ohne mich, und wir hatten kein einziges Mal miteinander gesprochen. Ich musste bis morgen früh warten. Ich ließ Callie wieder herein, und sie legte sich auf den Boden neben das Sofa. Ich schlief bei laufendem Fernseher ein – Mr. Ed – und wachte am Morgen mit Bezaubernde Jeannie auf.
Ich erfüllte die wenigen Pflichten, die ich hatte, überlegte kurz, das Haus sauberzumachen, aber wozu eigentlich? Der Tag lag schier endlos vor mir: Room 222, Gilligans Insel, Unser trautes Heim und so weiter.
Ich versuchte wieder, die Kinder zu erreichen. Noch immer keine Antwort. Schließlich rief Paige an, um mich wissen zu lassen, dass das Flugzeug Verspätung hatte und sie gestern erst spät nachts nach Hause gekommen waren.
»Kann ich mit den Kindern sprechen?«, fragte ich.
»Ich weiß, dass es schwer für Sie ist. Aber das ist es für die Kinder auch.«
Im Hintergrund hörte ich Zach weinen: »Ich … will … meine … Mommy! Ich … will … meine … Mommy!«
»Ella, ich halte es für keine gute Idee, dass Sie in der jetzigen Situation mit ihnen sprechen. Geben Sie uns ein bisschen Zeit, uns aneinander zu gewöhnen. Die Kinder vermissen Sie, und mit Ihnen zu reden wird alles nur noch schlimmer machen.«
»Soll das ein Witz sein?«, sagte ich. »Lassen Sie mich mit Zach sprechen, ich kann ihn beruhigen.«
»Das glaube ich nicht«, sagte Paige. »Hören Sie, Ihr Verhalten vor Gericht war wirklich nobel und auch mutig. Doch jetzt bitte ich Sie, uns etwas Raum zu lassen.«
»Was glauben Sie eigentlich, wer Sie sind?«
»Ich weiß, wer ich bin … Ich bin Annies und Zachs Mutter.« Und sie legte auf.
»Miststück!«, schrie ich durchs Telefon ins Leere, dann warf ich es an die Wand.
Doch das reichte nicht, um mich wieder abzuregen, ich fühlte mich wie eine Katze auf einem LSD-Trip. Was konnte ich nur tun? Zach weinte! Joes Stativ stand noch immer wie eine Gedenkstätte in der Ecke unserer Nicht-so-Guten-Stube. Ich packte das Stativ und rannte im Pyjama nach draußen, wo ich es wie einen Baseballschläger schwang, als trainierte ich für meinen Auftritt als Schlagmann. Ich ging zu Joes Pick-up, seiner geliebten Grünen Hornisse, stellte mich breitbeinig daneben und schwang das Stativ mit großer Wucht. Es ging krachend auf der Windschutzscheibe nieder, die in tausend Stücke zerbarst.
Was hatte ich von Paige erwartet? Überschwängliche Dankbarkeit? Vergebung? Eine gewisse Bereitschaft, eine annehmbare Lösung für uns beide zu finden? Ja, ja, ja! Gegenüber Gwen Alterman hatte ich gesagt, dass Paige nicht aus Annies und Zachs Leben ausgeschlossen werden sollte, und geglaubt, Paige würde genauso denken, was mich betraf. Ich hatte sie irrtümlich für die Frau gehalten, die vor drei Jahren die Briefe geschrieben hatte – eine verzweifelte, verletzliche, von Schmerz verzehrte Mutter. Doch selbst Lizzie hatte bemerkt, dass es eine alte Paige gab und nun diese neue, die glaubte, dass alle Dinge einen bestimmten Platz hatten, und deshalb überzeugt war, dass Annie und Zach in ihr Haus gehörten. Da durfte mein persönliches Chi natürlich nicht mit durch die Tür flattern oder durch die Telefonleitung kriechen. Sie hatte gegen das Durcheinander, das ich als Stiefmutter zwangsläufig verursachen würde, umgehend Maßnahmen ergriffen.
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