Doch stattdessen murmelte ich nur, dass es mir leidtäte, und ließ mich von Gwen Alterman an ihnen vorbeiführen, zur Tür hinaus und in die Cafeteria, wo ich Lucy anrief und bat, die Briefe in meinem Haus zu holen und sie mir zu bringen.
»Bist du sicher?«, fragte sie. Als ich nichts erwiderte, sagte sie, dass sie in etwa einer Stunde im Gericht sein werde.
Lucy brachte die Briefe. Sie nahm mich in die Arme, drückte mich lang und fest und sagte, sie sei draußen im Flur, falls ich sie brauchte. Gwen stellte einen Kaffee vor mich auf den Tisch, den ich nicht anrührte. Sie ging weg, um Kopien von den Briefen zu machen und sie zu übergeben, kam zurück und fing an zu lesen.
Schließlich sah sie mich über die Lesebrille hinweg an und fragte: »Ella, wo haben Sie die gefunden?«
Ich erzählte ihr von den Kätzchen, dem Sprungrahmen. Ich erzählte ihr, wie ich die noch verschlossenen Briefumschläge geöffnet hatte.
Kopfschüttelnd sah sie mir in die Augen, noch bevor ich den Blick abwenden konnte. Irgendwo hinter mir kratzte ein Stuhl übers Linoleum.
»Gwen, sagen Sie mir, dass ich das Richtige getan habe.«
Wieder Kopfschütteln. »Sie hätten mir davon erzählen sollen, damit wir besser vorbereitet gewesen wären. Allerdings bin ich nicht sicher, ob ich mich auf das hier überhaupt besser hätte vorbereiten können.«
»Annie und Zach sollen nicht mit der Vorstellung aufwachsen, dass ihre Mutter sie nicht haben wollte. Ich will, dass die Wahrheit herauskommt. Und ich will natürlich immer noch, dass die Kinder bei mir bleiben. Wird der Richter das nicht immer noch genauso sehen? Ich dachte, die Richter in Kalifornien haben bei ihrer Entscheidung immer zuerst das Wohl der Kinder im Auge.«
Gwen Alterman rührte einige Zeit in ihrem Kaffee. »Für mich ist das ein Fall, der über den bloßen Wunsch, zu gewinnen, hinausgeht«, sagte sie schließlich. »Ich stimme Ihnen zu, dass die Kinder bei Ihnen bleiben sollten. Aber Sie sind ihre Stiefmutter. Selbst wenn das für Sie eine Formsache ist, für das Gericht ist es das nicht. Die leibliche Mutter hat noch immer alle Rechte.«
»Aber Sie haben gesagt –«
»Vergessen Sie, was ich gesagt habe. Diese Briefe verändern die Lage. Im Moment müssen wir überlegen, ob wir irgendwelche Einwände haben, diese Briefe als Beweismittel zuzulassen.«
»Nun, nein, darum geht es doch, oder?«
Sie erklärte, dass wir nicht zwischen den früheren und den späteren Briefen unterscheiden und somit nicht nur die ersten herauspicken konnten. »Entweder alle oder keiner. Ich werde also keinen Einwand geltend machen, weil ich glaube, dass das Gericht die Briefe sowieso als Beweismittel zulassen wird.«
Ich nickte. Sie ging, um Paiges Anwalt zu treffen. Ich saß da, den Kopf nach hinten in den Nacken gelegt, damit die Tränen mir nicht aus den Augen rollten. Ich holte mein Mobiltelefon hervor und wählte Lizzies Nummer, wollte Annies und Zachs Stimmen hören. Aber es nahm niemand ab.
Gwen kam zurück und sagte, dass Paiges Anwalt einverstanden war, die Briefe zuzulassen, und den Richter bereits darüber informiert hatte. Allerdings hatte Paige außerdem einen Einigungsvorschlag unterbreitet.
»Gemeinsames Sorgerecht, wobei Paige das Aufenthaltsbestimmungsrecht bekommt, also die Kinder bei Paige leben, und Ihnen Besuchsrechte gewährt werden … vier Mal im Jahr plus zwei Wochen im Sommer, eine Woche nach Weihnachten.«
Ich schüttelte den Kopf. »Besuchsrecht für mich? Ganz sicher nicht. Also wirklich, Gwen, Sie haben doch selber gesagt, dass ich ihre richtige Mutter bin.«
Sie zog die Manschette ihrer Bluse unter den Blazerärmeln hervor und legte die Hand auf die Briefe, die dicklichen Finger gespreizt. »Ella, unser ganzer Fall basierte auf der Tatsache, dass sie die Kinder verlassen hatte. Mit diesen Briefen fällt das alles weg. Sie als Stiefmutter haben keine Rechte, wenn eine liebevolle leibliche Mutter das Sorgerecht für ihre Kinder will. Sie sind nicht einmal ihr gesetzlicher Vormund.«
Ich spürte, wie sich mir der Hals zuschnürte. »Diese Briefe beweisen, dass Paige eine Rolle in ihrem Leben spielen sollte. Aber wenn es um die Frage geht, was das Beste für Annie und Zach ist, spricht doch alles für uns. Für Elbow, wo sie aufgewachsen sind, inmitten ihrer großen Verwandtschaft. Oder etwa Sin City – Las Vegas?«
Sie presste die Finger an die Schläfen. »Hören Sie, wir müssen nicht sofort darüber entscheiden. Mal sehen, was der Richter dazu sagt.«
Zurück im Gerichtssaal J, stieß Richter Stanton einen lauten Seufzer aus. Sein Blick wanderte zwischen Paige und mir hin und her, während er mit müder, resignierter Stimme sagte: »Ich habe die Briefe gelesen, und sie werfen ein neues Licht auf diesen Fall. Fakt ist, dass die Empfehlung der Mediatorin auf der Tatsache beruhte, dass die Antragstellerin drei Jahre lang keinen Kontakt mit ihren Kindern gesucht hatte. Diese Briefe widerlegen das. Sie zeigen uns eine liebende, aber emotional verwirrte junge Mutter, die glaubte, mit ihrem Weggang im besten Interesse ihrer Kinder zu handeln. Was auch sehr wohl der Fall sein könnte. Ich muss sagen, ich bin bestürzt, dass der inzwischen verstorbene Vater nicht versucht hat, gemeinsam mit der Mutter eine Lösung zu finden, sie wieder mit ihren Kindern zusammenzubringen. Man muss sich fragen, welche Rolle die Stiefmutter dabei gespielt hat. Ich werde ein Sorgerechtsgutachten beantragen und abwarten, wie das ausfällt. Danach wird die Verhandlung fortgesetzt. Aber ich kann Ihnen jetzt schon sagen, wohin ich tendiere: Was das jüngere Kind betrifft, ist Ms Beene die Mutterfigur, hinsichtlich des älteren ist es Ms Capozzi. Und vielleicht sollte diese Sorgerechtssituation auch entsprechend gehandhabt werden.«
Ich nahm Gwens Stift und schrieb NEIN!! auf ihren Aktendeckel.
Sie erhob sich. »Euer Ehren, bevor wir mit langwierigen Untersuchungen beginnen, könnten wir vielleicht erst einmal mit unserer jeweiligen Klientin sprechen?«
Gwen und ich saßen im Anwaltszimmer. »Sie können nicht getrennt werden«, stieß ich zwischen den Zähnen hervor.
»Also dieser Richter reagiert so übertrieben, das ist schon lächerlich. Vielleicht spielt er sich nur auf. Es passiert wirklich nicht oft, dass Richter Kinder auseinanderreißen«, erwiderte Gwen.
»Aber das hat er angedeutet. Das Risiko kann ich nicht eingehen. Was geht hier vor?«
»Hören Sie, so schnell passiert das nicht. Er hat nur laut nachgedacht. Zuerst einmal gibt es eine Untersuchung. Man wird sich alles genau ansehen, alle werden befragt. Bereiten Sie sich auf sehr intensive – und kostspielige – sechs Monate vor.«
»Geld ist mir egal. Das kriege ich zusammen. Aber die ganze Sache setzt allen furchtbar zu. Marcella … ich glaube nicht, dass sie und Joe senior das noch lange durchhalten. Aber für Annie und Zach wird es am allerschlimmsten.«
»Zumal bis jetzt nur an der Oberfläche gekratzt wurde, und das ist nichts im Vergleich zu der Untersuchung, die auf uns zukommt. Ella, im Moment bietet Paige Ihnen das gemeinsame Sorgerecht an. Wir können auch beantragen, dass das Verfahren zum Ruhen kommt, das Gericht die Zuständigkeit behält und das Verfahren jederzeit wieder aufgerufen werden kann, wenn eine der Parteien eine Änderung will.«
»Aber die Kinder würden bei Paige leben?«
Gwen nickte. »Wenn es zur Verhandlung kommt, könnte der Richter ihr das alleinige Sorgerecht zusprechen, und Sie gehen leer aus – dann bekommen Sie nicht einmal Besuchsrechte. Was durchaus möglich ist. Stiefeltern haben gewöhnlich keine Rechte, wenn es ums Sorgerecht geht.« Sie beugte sich über den Tisch. »Es sei denn, Sie können beweisen, dass sie die Kinder vernachlässigt. Ella, im günstigsten Fall bekommen Sie Zach, aber nicht Annie.«
Wie konnte das alles nur passieren?
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