Die Wände zwischen uns waren anders gewesen, aber sie existierten. Unsichtbare Wände. Die Illusion von Licht und Raum und sogar Luft. Die Sorte, die man nicht sehen kann, zerbrechlich wie Glas. Sie funktionieren wunderbar, bis man plötzlich aus heiterem Himmel in eine hineingestoßen wird und die Illusion zerbricht, so dass dir nun jeder einzelne Schritt ins Fleisch schneidet, und nicht nur dir selbst, sondern auch denen, die neben dir gehen.
Ich machte die Tür zu Annies und Zachs Zimmer auf, und die Kätzchen kamen auf mich zugetapst. »Mach die Tür zu, sonst laufen sie raus«, sagte Annie.
»Das ist meine«, sagte Zach und nahm eines auf den Arm.
»Nein, Zachosaurus. Weißt du nicht mehr? Beide gehören uns beiden.« Selbst das klang in meinen Ohren wie ein Sorgerechtsstreit.
Annie erklärte, dass sie sich endlich für Namen entschieden hatten, Ding Eins und Ding Zwei, wie in Ein Kater macht Theater . Sie hatten sich einfach nicht auf etwas anderes einigen können.
Ich machte Kaffee in der Kaffeemaschine, die einmal Paige gehört hatte. Ich rührte Milch hinein mit einem der Löffel von ihrer Hochzeitsliste und stellte die Milch zurück in denselben Kühlschrank, an den sie einmal Familienfotos mit einem Magnet geheftet hatte. Ich musste an das Familienfoto mit dem herausgeschnitten Gesicht denken, an ihre Worte: Ich habe mein Gesicht rausgeschnitten. Vielleicht kannst Du ihr Gesicht reinkleben . Ich war hereinspaziert und unter ihre Bettwäsche geschlüpft – die gleiche Bettwäsche, die sie gewaschen und zusammengelegt und in den Wäscheschrank geräumt hatte, bevor sie endgültig gegangen war.
Ich glaubte nicht, dass sie Annie und Zach eine bessere Mutter wäre als ich. Doch wahrscheinlich auch keine schlechtere. Ihre eigene Mutter war krank gewesen und hatte sie verletzt, anscheinend war etwas Schlimmes mit ihrem Rücken passiert, aber nichts davon bedeutete, dass sie keine gute Mutter sein würde. Und doch war sie bei der Mediation nicht ganz ehrlich gewesen. Sie hatte Janice Conner den Inhalt der ersten fünf Briefe an Joe verschwiegen, nämlich dass sie nie wieder zurückkommen würde und er keinen Kontakt aufnehmen sollte. Und dann war ich gekommen. Und dann hatte sie einen Arzt gefunden, der ihr helfen konnte, und war schließlich sogar wieder gesund geworden.
Die Kinder spielten noch immer mit den Kätzchen Verstecken, und ich ging hinaus in den Garten und bewunderte die Beete, die wie ein Quilt angelegt waren, die ungeheure Hülle und Fülle. Das stammte von mir. Das hatte ich beigetragen. Mehr nicht.
Ich blickte zurück zum Haus. Joe und ich hatten seine schrullige Architektur als »angenehm exzentrisch« bezeichnet. Es hatte mir sofort gefallen, und es gefiel mir noch immer. Alles war leicht schief und unvollkommen, und die Veranda drumherum wirkte wie Arme, die es umschlossen. Das war nicht mehr Paiges Haus. Genaugenommen war es ihr nie so ein Zuhause gewesen, wie es mir eins war. Ein gutes Service, Alltagsgeschirr und ein paar Küchengeräte, saubere Bettwäsche? Na und? Joe und ich und die Kinder waren hier glücklich gewesen. Trotz aller Traurigkeit, die Paiges Weggehen bewirkt hatte.
Und wieso hatte das alles so perfekt zu mir gepasst? Ich hatte viele Jahre in einem Haus in San Diego gelebt, hatte jeden Teller selbst ausgesucht, jeden Teppich, und doch hatte ich mich nie zu Hause gefühlt.
Ich war zufällig in diese Stadt gekommen, zu diesem Mann und seinen Kindern, diesem Haus und diesen Bäumen. Ich war in den verlorenen Schatz einer anderen gestolpert. Nein, in den verlassenen Schatz, den zurückgelassenen.
Ich hatte ihn nicht gestohlen, doch zurückgeben wollte ich ihn auch nicht. Wie hatte damals mein Unterbewusstsein argumentiert? Dein Verlust, Lady, ist mein Gewinn? Und was hatte ich unter der Oberfläche wahrgenommen, das ich nicht mit einer simplen Frage ans Tageslicht bringen wollte? Weil ich meine eigenen Ängste hatte. Weil ich Angst hatte vor ehrlichen, aber komplexen Antworten und mich bereitwillig mit dem schulterzuckenden: »Sie ist gegangen und kommt nie mehr zurück« zufrieden gab.
Halt! Es hatte keinen Zweck, sich mit Fragen abzulenken, wer wohl die rechtmäßige Besitzerin weggeworfener Löffel und Gabeln war, von Land und Bäumen, einem Haus, einem Garten. Ich konnte meine Kinder nicht länger als meine eigenen beanspruchen. Sie hatten noch eine Mutter, die sie ebenfalls liebte. Eine Frau, die womöglich nicht fair behandelt worden war. Ich sah wieder zum Haus und versuchte es mir ohne Annie und Zach vorzustellen. Der Boden unter mir wankte bedrohlich, und ich griff nach dem Gartentorpfosten und hielt mich und mein schönes Leben daran fest.
Lizzie kam und holte die Kinder ab. Ich zog mich an, um zum Gericht zu fahren. Das Bündel Briefe in meiner Handtasche holte ich mehrmals wieder heraus, um es wenig später wieder reinzustecken. Die ungeöffneten Briefe an Annie und Zach lagen in der Schublade meiner Kommode. Was auch immer passierte, sie gehörten den Kindern und nicht dem Gericht. Paige hatte ihre Briefe an Joe eingeklagt und versäumt, die an Annie und Zach mit einzubeziehen.
Ich griff ein letztes Mal zum Telefon und rief meine Mutter an. Nachdem ich ihr erzählt hatte, was in Paiges Briefen stand, sagte sie: »Es ist nicht fair, dass du dich in deiner Situation jetzt auch noch damit auseinandersetzen musst, Ella. Willst du meine Meinung hören? Ich finde, dass jede Frau so eine Falltür wie meine Großmutter unter dem Küchenteppich haben sollte.«
»Willst du damit sagen, ich sollte auch unter die Schwarzbrenner gehen?«
»Ich will damit sagen, dass du bei allem, was du tust, an die Kinder denken musst. Auch wenn es bedeutet, dass du gegen das Gesetz verstößt.«
»Mom. Annie und Zach sollen nicht in dem Glauben aufwachsen, dass ihre Mutter sie nicht wollte. Wenn ich die Briefe nicht dem Gericht übergebe, was dann? Ich würde eine Lüge leben. Selbst wenn ich sie ihnen eines Tages zeigen würde, wüssten sie, dass ich Beweise zurückgehalten habe, die belegten, dass ihre Mutter das Sorgerecht wollte. Ich glaube nicht, dass ein Richter aufgrund der Briefe – falls ich sie übergebe – seine Meinung ändert. Ihr Leben ist hier bei mir und der Familie Capozzi.«
»Das glaubst du … aber das weißt du nicht.«
»Okay, und folgendes weiß ich: Du willst, dass ich sie ›schütze‹, indem ich lüge. Indem ich ihnen Informationen vorenthalte, die ihnen helfen würden zu verstehen, dass sie keine Schuld am Weggehen ihrer Mutter hatten? Dass sie keinen Grund haben, sich schuldig zu fühlen oder zu schämen?«
»Über wen reden wir hier eigentlich?« Sie hielt inne: »Jelly, ich weiß, warum du aufgebracht bist.«
Als ich nichts erwiderte, sagte sie: »Ich nehme ein Flugzeug und komme zu dir.« Ich sagte, sie solle damit warten, dass ich sie vielleicht später noch mehr brauchen könnte.
Ich ging ohne das Briefbündel zum Jeep, eilte dann aber über die Verandatreppe zurück in den Flur und zur Küche, wo ich sie vom Tisch nahm. Dabei stieß ich die Pfeffermühle um, die runterrollte und krachend auf dem Boden landete. Ich hob sie auf und stellte sie zurück auf den Tisch, betrachtete sie einen Moment lang. Joes Lieblingspfeffermühle. Wollte er mir etwas sagen? Fing er jetzt an zu reden? Ich wartete, doch sie rührte sich nicht. Ich schüttelte den Kopf, um zumindest ein bisschen Logik zurück an ihren Platz zu befördern.
Ich schaffte es mit den Briefen bis zur Tür, aber bei jedem Schritt den Flur entlang hatte ich Geschrei und Gelächter und Weinen im Ohr, die wundersame Ausdrucksvielfalt von Annie und Zach, und ich beschloss, dass ich das Ehrliche und Richtige doch nicht tun konnte. Sosehr ich es auch wollte, ich konnte es nicht. Ich legte die Briefe in die Nachttischschublade, und diesmal fiel Joes Foto vornüber. »Hör auf«, sagte ich laut. »Mach das nicht«, und ich eilte hinaus zum Auto, bevor ich erneut meine Meinung ändern konnte.
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