Ich habe ihm von der großen Prüfung erzählt, der ich Dich unterzogen hatte, als wir uns kennenlernten. Er meinte, es wäre gut, wenn ich Dir von meinen damaligen Gefühlen schreibe, und was Deine Reaktion damals bedeutet haben könnte. Ich weiß, was Du von »Psychogeschwätz« hältst, aber im Moment dreht sich mein ganzes Leben nur darum, deshalb bitte ich um Nachsicht.
Ich hatte mich zwanzig Jahre lang versteckt. Die Leute sagten mir immer wieder, ich solle als Model arbeiten. Sie hatten ja keine Ahnung! Ich hatte Dich oft mit der Kamera auf dem Unigelände herumlaufen sehen. So wie Du die Dinge betrachtetest, bekam ich das Gefühl, dass Du irgendwie anders bist – geduldig, und nicht nur aufs Äußere fixiert. Ich sah Deinen Namen unter den Fotos in der Unizeitschrift. Um Dich kennenzulernen, fragte ich Dich, ob Du auch Bewerbungsfotos machst. Du hast gelogen und ja gesagt. Du bist sogar losgeeilt und hast diesen schönen Morgenmantel und andere Kleider gekauft, um sie zum Trocknen an die Duschstange zu hängen, damit Dein Bad wie eine Umkleidekabine für Models aussah! Wir haben also beide mit Lügen begonnen, auch wenn es nur kleine waren.
Vermutlich war ich an einem Punkt, an dem ich mich noch einem Menschen anvertrauen wollte – an dem ich von noch jemandem außer von Tante Bernie geliebt werden wollte. Und zwar als die Frau, die ich wirklich war. Wenn überhaupt, war es ein Akt der Verzweiflung. Ich wusste von Anfang an, was ich tat.
Erinnerst Du Dich noch, Joe? Wie Du den Finger kaum mehr vom Auslöser genommen hast, es klick klick klick machte? Deine Überraschung, als ich langsam meine Kleider auszog.
Und zum ersten Mal in meinem Erwachsenenleben habe ich einem anderen Menschen diese Seite meiner Geschichte gezeigt. Als ich Dir meinen Rücken zudrehte, hörte das Klicken auf. Doch da war kein entsetztes Schnappen nach Luft, Du bist nicht aus der Wohnung gerannt. Ich spürte Deinen Blick. Später hast Du mich dann nach dem Wie und Warum gefragt. Doch erst einmal hast Du mir den Paisley-Morgenmantel gehalten, damit ich in die Ärmel schlüpfen konnte. Du hast mich zu Dir umgedreht und den Gürtel zugebunden. Und dann hast Du mich in die Arme genommen.
Ich habe diese Geschichte immer geliebt, auch wenn wir sie niemandem erzählt haben. Du versprachst, mein Geheimnis zu hüten. Aber heute, als ich es Dr. Zelwig erzählte, meinte er: Joe hat den Teil von Ihnen bedeckt, den anzusehen zu schwer war.
So hatte ich nie darüber gedacht. Ich war so dankbar, dass Du überhaupt hingeschaut hast und nicht weggerannt bist. Ich hielt es für einen Ausdruck Deiner Akzeptanz. Aber vielleicht stimmt das ja nicht. Vielleicht hat Dr. Zelwig recht. Könnte das sein? Wie siehst Du das?
Paige
Ich wollte die restlichen Briefe nicht lesen. Mir war vollkommen bewusst, dass ich eine Büchse der Pandora öffnen würde, die ich nie wieder schließen konnte. Doch gleichzeitig war mir klar, dass ich sie für Annie und Zach lesen musste. Um drei Uhr fünfundzwanzig rief ich Lucy an. Sie nahm nach dem zweiten Klingeln ab. Als ich sie bat, zu mir zu kommen, sagte sie: »Bin schon unterwegs. In sieben Minuten bin ich da.« Sie hatte mich nicht nach dem Grund gefragt, noch auf die nächtliche Stunde aufmerksam gemacht. Und als sie dann kam, schloss sie mit dem Schlüssel, den sie von unserem Haus hatte, selbst auf, kuschelte sich zu mir aufs Sofa, nahm die Briefe und fing an zu lesen, ohne auch nur ein Wort gesagt zu haben. Nachdem sie mit den bereits offenen Briefen durch war, lasen wir gemeinsam den nächsten.
21. Oktober
Lieber Joe,
heute hatte ich die bislang beste Sitzung. Inzwischen glaube ich tatsächlich, dass Dr. Zelwig mir helfen kann! Er hat ein Medikament für mich gefunden, das mich weder dumpf im Hirn macht noch den Wunsch weckt, tot umzufallen. Und es gibt einen Namen für meinen Zustand. Nicht Baby-Blues, wie Dr. Blaine immer behauptete. Das haben viele Frauen. Was ich habe, nennt sich postpartale Depression und wird durch die Geburt ausgelöst. Sie kann erblich bedingt sein und über mehrere Jahre anhalten. Mein Fall ist besonders schwer … aber hier ist die beste Nachricht überhaupt: Ich bin nicht meine Mutter! Dr. Zelwig glaubt nicht, dass ich Annie und Zach je verletzt hätte. Es gibt nämlich eine noch seltenere und sogar noch schwerere Form, die sogenannte postpartale Psychose, die aber nur wenige Frauen trifft. Er sagt, meine Mutter hätte sie gehabt. Joe, sie war kein Ungeheuer. Sie war sehr, sehr krank. Aber Medikamente und ein Krankenhausaufenthalt hätten selbst ihr helfen können. Wenn man das damals doch schon gewusst hätte!
Selbst heute gehen die meisten Ärzte der betroffenen Frauen davon aus, dass es sich nur um Baby-Blues handelt. Wie Dr. Blaine. Aber weißt Du was? Diese Krankheit gab es schon immer, und es ist seit Ewigkeiten bekannt. Dr. Zelwig hat mir all die Artikel gegeben, ich kann sie Dir schicken, wenn Du willst. Aber hier ist das erstaunliche Zitat eines Gynäkologen aus dem 11. Jahrhundert: »… wenn der Mutterleib zu feucht ist, ist das Hirn mit Wasser gefüllt, und die Feuchtigkeit, die zu den Augen läuft, bringt diese dazu, unfreiwillig Tränen zu vergießen.«
Ich weine pausenlos. Aus Erleichterung. Und wegen meiner armen Mom, weil sie das alles nicht hätte erleiden müssen – weil ich das alles nicht hätte erleiden müssen. Und zum ersten Mal, Joe: HOFFNUNG.
Paige
»Paige hatte Hoffnung? Am 21. Oktober hatte Paige immer noch Hoffnung?«, sagte ich. »Ich frage mich, was passiert wäre, wenn Joe die Briefe geöffnet hätte, ob jetzt alles anders wäre. Ob er sich mit mir hingesetzt und meine Hände genommen und gesagt hätte, dass Paige zurückkommt. Um mit Annie und Zach zusammen zu sein. Und mit ihm.«
»El, Joe hat dich geliebt. Du hast ihm neues Leben eingehaucht, als du hergekommen bist. Und Annie und Zach. Quäl dich nicht mit Was-wäre-wenns, das hilft niemandem.«
Wir lasen weiter.
15. Dezember
Joe,
ich habe immer noch nichts von Dir gehört und schließlich Lizzie angerufen. Sie sagt, es gibt eine neue Frau. Stimmt das, Joe? So schnell?
Hier ist ein Foto von uns, das wir letztes Jahr zu Weihnachten verschickt haben. Tante Bernie hatte es an ihrem Kühlschrank hängen und mir mitgebracht. Ich habe mein Gesicht rausgeschnitten. (Die Krankenschwester war dabei. Wir dürfen Scheren nur unter Aufsicht benutzen. Wie bei Annie im Kindergarten.) Vielleicht kannst Du ihr Gesicht reinkleben. Ellas. Ella Bean?
Paige (Deine Frau)
»Autsch.«
Lucy sagte: »Also ich weiß wirklich nicht, was sie von ihm erwartet hat. Sie hat ihm doch selber gesagt, er soll aufhören dahinzuvegetieren und wieder anfangen zu leben. Und genau das hat er getan. Gott sei Dank! Jetzt mach den Nächsten auf. Oder gib ihn mir, ich öffne das verdammte Ding.«
8. April
Joe,
endlich höre ich von Dir, und dann in Form eines Briefumschlags mit der Scheidungsurkunde drin. Und eine Nachricht mit den Worten: Ich weiß, dass es das ist, was du willst. Wie kommst Du darauf, überhaupt etwas zu wissen?
Ich weiß, ich habe Dokumente unterschrieben und Dir zukommen lassen, mit denen ich in die Scheidung eingewilligt habe. Ich weiß, dass ich Dir gesagt habe, Du sollst in die Zukunft blicken. Aber ich war verwirrt. Es tut mir leid, dass ich das gesagt habe. Ich habe das damals nicht gewollt, und jetzt erst recht nicht. Hast Du denn keinen meiner späteren Briefe gelesen?
Ich besitze im Moment nicht die Kraft zu kämpfen, ich konzentriere mich voll und ganz darauf, wieder gesund zu werden. Einer Auseinandersetzung vor Gericht bin ich noch nicht gewachsen. Aber eines Tages werde ich das sein.
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